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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 31,1.1917

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Heft 3 (1. Novemberheft 1917)
DOI Artikel:
Troeltsch, Ernst: Ernste Gedanken zum Reformations-Jubiläum
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https://doi.org/10.11588/diglit.14422#0127

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immer klarer, daß man dem europäischen Leben keine neue Religion
einimpfen kann, weder eine indische, noch eine vollkommen nene Zu-
kunftsreligion. Es ist mit dem Christentum unlösbar verwachsen, und
so bleibt es bei einer außerkirchlichen und überkirchlichen europäischen
Religion, die ihre wesentlichsten Wurzeln im Christentum hat.

Das wäre angesichts des Reformationsjubiläums an sich kein schmerz-
licher und sorglicher Zustand. Für diejenigen — und das sind sehr
viele —, die der Kirchen bedürfen, ist ja gesorgt, und auch an bedeuten-
den und zahlreichen Vermittlungen zwischen kirchlicher und außerkirch-
licher Religion fehlt es nicht. Insbesondere die Größe Luthers vermag
man auch von einer solchen Sachlage aus mit offenem Blick und be-
wegtem Herzen zu würdigen, ja vielleicht um so wärmer und bedingungs-
loser, je weniger eine solche Würdigung zugleich ein dogmatisches Bekennt-
nis zu ihm zu sein braucht. Schmerzlich und sorgenreich ist aber der zer-
fahrene, unklare, aus Sehnsucht, Kritik, Neuerungslust und Gilettantismus
gemischte innere Stand der „außerkirchlichen Religion" selbst. Tiefstes
Bedürfnis und wenig Klarheit, das ist ihr Charakter. Äberdies vermag sie
sich nirgends ein durchsichtiges Verhältnis zu den doch nun einmal be-
stehenden und praktisch ungeheuer wichtigen kirchlichen Institutionen zu
geben. Sie schwankt zwischen unehrlicher Anpassung und verschwom-
mener Angleichung auf der einen Seite, völliger und gewollter An°
kenntnis und Verständnislosigkeit auf der andern Seite. Hier liegt für
die deutsche Bildung, einerlei welcher Klassen, die große und ernste Le-
bensfrage, die das Reformationsjubiläum in uns weckt. Sie wird da°
durch nicht leichter und einfacher, daß an der Lösung dieser religiösen
Frage ein edles und idealistisches Iudentum so stark mitbeteiligt ist,
das doch in Wahrheit andere innere Voraussetzungen hat als wir anderen.

Wir können gar nicht daran denken, diese Sachlage jetzt beim Iubiläum
ins Klare und Reine zu bringen. Der Einzelne mag gewiß sein, sich eine
klare Stellung geschaffen zu haben und darin die Festigkeit seines Wesens
zu haben. Für die Allgemeinheit sind wir weit von jeder Lösung ent-
fernt. Auch ist es wohl überhaupt nicht möglich, für sie eine einheitliche
inhaltliche Lösung über die allgemeinsten Grundzüge hieraus herbeizuführen.
Aber eines könnte der Ernst der Selbstbesinnung, der von diesem Iubiläum
einer unserer größten Geistestaten ausgehen sollte, uns allerdings tief
ins Herz schreiben: die Notwendigkeit, in diesen wichtigen Dingen immer
nur mit einem tiefen Verantwortungsgefühl zu reden, zu schreiben und
zu handeln. Die Leichtfertigkeit und Verantwortungslosigkeit, mit der
in Prosa und Versen, in Wissenschaft und Literatur an diesen Dingen
herumexperimentiert und dilettantiert wird, ist grenzenlos und grauen-
voll. Es ist, als ob hier jeder Einfall beliebig und ohne Schaden in die
Welt geschleudert werden könnte und als ob eine möglichst starke und
paradoxe Behandlung dieser Dinge den Autoren am besten den Glanz
des Geistreichtums sicherte. In christlichen Zeiten verblüfft man die Leute
durch naturalistische, in naturalistischen durch mystische und christliche
Allüren. Nm die Verwirrung, das Argernis, die Angst und den Schmerz,
den man anrichtet, kümmert man sich nicht. Daß man damit andere
Sernegroße zu gleichen Oberflächlichkeiten und Verantwortungslosigkeiten
verführt, hält man für einen Erfolg. Nnd daß Geradheit, Gesundheit und
grundsätzliche Einheit der Lebensrichtung des Volkes bei alledem er-
halten bleiben, das hält man sür selbstverständlich; denn man nimmt

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