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Wege, Frost und Hitze, Erdbeben, Wolkenbrüche, Ueberschwcm-
mungen, Eruptionen, Samum, Schneestürme, Orkane, Sand-
wehen, Lawinen, sibirische Lufttrockenheit und faulige Sumpf-
luft, welche inficirende Miasmen aushaucht, giftige Pflanzen,
reißende Thiere rc. rc. Man bedenke nur, was im Großen
und Ganzen die Menschen in dieser Hinsicht ertragen, und wie
Schiffer, Kutscher, Soldaten, Landleute, Postboten, Schaffner
und unzählige andere im Freien sich bewegen müssende Stände
von der Unbill der Natur zu leiden haben. Sind diese Wider-
wärtigkeiten in der gemäßigten Zone schon groß genug, um den
sehr vereinzelt auftretenden Naturgenuß zu überwiegen, so wachsen
dieselben in den kalten und heißen Zonen geradezu in's Unge-
heuerliche. So sind allein in Japan nach historisch verbürgten
Angaben viele Millionen durch Erdbeben getödtet worden, wäh-
rend in Südamerika kein Jahr vergeht, ohne durch Erdbeben
ganze Städte zu vertilgen. Ebenso schrecklich sind die durch
wilde Thiere in den heißen Ländern angerichteten Verwüstungen,
wie denn z. B. allein in Bengalen jährlich ungefähr 10,000
Menschen Tigern zur Beute fallen, während nur in Nieder-
Bengalen in den Jahren 1864—1870 nach dem Berichte des
Lord Ettrik 13,400 Menschen durch reißende Thiere umge-
kommen sind und ebenso viele, wo nicht mehr, durch Schlangen.
Wer zählt die Schiffbrüche, welche seit der Entdeckung Amerikas
vorfielen? Wer vermag auch nur annähernd die Zahl von Un-
glücksfälleu und die Summe des Leides anzugeben, welche in
einem Jahre durch Naturgewalten und Ereignisse hervorgerufen
werden? Es ist unberechenbar — und wenn H. ein Vorwurf
zu machen ist, so ist es der, daß er diese kolossale Leidenssumme
in seiner Abwägung von Leid und Lust nicht mit in Rechnung
gezogen und dadurch seinem Beweise der überwiegenden Unlust
eine bedeutende Stütze vorenthalten hat."
Dies ist Alles, was der Verfasser über diese Seite des
Natureindrucks sagt; allein zureichend scheint uns dies'keines-
wegs. Es hätte untersucht werden müssen, ob die Eindrücke,
welche die einzelnen Sinne von der Natur empfangen, mehr
Unlust als Lust gewähren, ob z. B. die unangenehmen Gerüche
die angenehmen, die mißtönenden Laute die wohltönenden u. s. f.
überwiegen. Die bloße Vernichtung von Menschenleben durch
Erdbeben, Schiffbrüche, Blitzschläge u. s. f. fällt für diese Frage
viel weniger in's Gewicht als das Plus oder Minus an Lust,
welches die normalen Zustände der Natur gewähren. Es scheint
uns, als ob der Vers, bei dieser Untersuchung mehr das quan-
titative als das Gradverhältniß zwischen den beiden Faktoren im
Auge hat. Ob aber z. B. hundert Menschen bei einem Schiff-
bruch untergehen oder zehn, ist für die Beurtheilung des Leidens,
welches solch' Unglück bewirkt, indifferent. Ohnehin ist — um dies
nur beiläufig zu erwähnen — der Schiffbruch Etwas, woran die
Natur weniger Schuld trägt, als der Wille des Menschen, welcher
mit dem Bewußtsein der Gefahr, in die er sich begiebt, derselben
aus mehr oder weniger selbstsüchtigen Gründen trotzt.
Außerdem aber giebt es Momente, welche gleichsam den
Uebergang von dem blos materiellen Genuß der Natur zu dem
ästhetischen bilden; z. B. die Freude am Wachsthum der Pflanzen
und Bäume, welche der sie pflegende Gärtner, die Lust am Ge-
deihen des Getreides auf den Feldern, welche der Bauer em-
pfindet. Hier ist nur die Frage, ob die Menge solcher Genüsse
größer sei als die der Enttäuschungen, welche durch Mißwachs
oder elementare Ursachen hervorgerufen werden.
Der Verfasser geht nun zu der ästhetischen Seite der Frage
über, indem er bemerkt: „Die Betrachtung Dessen, was die
Natur dein Menschen an Leid und Lust gewährt, ergiebt nun
aber auch, speciell auf den ästhetischen Naturgenuß angewendet,
das Vorhandensein eines großen Mancos, denn auch dieser Ge-
nuß ist, tvie so viele andere sogenannte, erst möglich durch einen
Mangel, ein Bedürfniß, durch das Entfremdetsein von der Natur.
Der Naturgenuß ist ein durchaus moderner, der selbst in unserer
Zeit nur einem kleinen Theile der Menschheit zu Theil wird.
Den Griechen war er fremd, ist es heute noch Allen, welche
in engem Zusammenhänge mit der Natur leben, also z. B.
den Landleuten, während er den Städtern gegeben ist, sowie
jenen Gebildeten, welche, wenn auch nicht praktisch, so doch
theoretisch von der Natur sich entfernt haben. Die Spaltung
zwischen Natur und Geist, welche das Hellenenthum nicht kannte
und die erst durch das Christenthum in die abendländische Kul-
tur eingeführt wurde, erreichte ihren Gipfelpunkt im christlichen
Mittelalter, welches ebenfalls des Naturgenusses entbehrte, nur
freilich aus entgegengesetzten Motiven. Denn während das
Hellenenthum sich „Eins" mit der Natur empfand und auf
diese Weise zu keinem Genüsse des Gleichgearteten kam, fühlte
das christliche Mittelalter sich durch eine unübersteigbare Kluft
von der Natur getrennt, welche letztere unheilig und ungeistig
dem auf die höchste Spitze getriebenen Kultus des Geistes
gegenüberstand. Erst die Reformation und Renaissance er-
innerte sich wieder der verlorengegangenen Natur, und die
Sehnsucht zur Rückkehr nach derselben steigerte sich mehr und
mehr, bis sie in dem auf der Grenze der modernen Zeit stehen-
den Jean Jacques Rousseau zum leidenschaftlichsten, beinahe
krankhaften Ausbruche kam und auch auf unberechtigte Gebiete
ausgedehnt wurde. Dieser von Rousseau angeschlagene Ton
zitterte darauf noch lange nach, wie die enthusiastischen und
größtentheils überschwenglichen Naturschilderungen eines Klop-
stock, Hölty, Kleist, Jean Paul rc. rc. beweisen, bis diese Natur-
schwelgerei mehr und mehr verflachte und ans dem Erbtheil krank-
haft erregter Geister ein heutzutage ziemlich sanft dahinfließender
Strom des Genusses für solche Gemüther ward, in denen sich
die Versöhnung zwischen Natur und Geist erst theilweise voll-
zogen hat. Diese Spaltung aber ist es allein, welche den Ge-
nuß ermöglicht, denn wo der Geist und das Bewußtsein sich
selbst als einen Theil der Natur empfindet, sehnt er sich nicht
nach ihr und nach der Rückkehr zu ihrem scheinbaren Frieden,
wie das Beispiel eines Winkelmann und Lessing beweist. Das
Gemiith nur, welches sich außerhalb des Kreises der Natur
stehend glaubt, wünscht zu ihr heimzukehren und freut sich ob
der scheinbaren Stille und Klarheit, welche sie athniet im Gegen-
satz zu dem schmerz- und reflexionsdurchwühlten Menschengeiste.
Geht man nun aber diesem Gefühle auf den Grund, so
ist es weiter nichts als die verschleierte Friedenssehnsucht der
Kreatur, der Nirvanazug, welcher durch alle Wesen geht, das
unbewußte Ringen alles Seins, wieder zur Ruhe zu kommen
und üt den Hafen des Nichts wieder einzulaufeu, welches
Ringen am heftigsten laut wird in der Menschenbrust und zum
klarsten Bewußtsein kommt im Menschengeiste. So ergiebt sich
Wege, Frost und Hitze, Erdbeben, Wolkenbrüche, Ueberschwcm-
mungen, Eruptionen, Samum, Schneestürme, Orkane, Sand-
wehen, Lawinen, sibirische Lufttrockenheit und faulige Sumpf-
luft, welche inficirende Miasmen aushaucht, giftige Pflanzen,
reißende Thiere rc. rc. Man bedenke nur, was im Großen
und Ganzen die Menschen in dieser Hinsicht ertragen, und wie
Schiffer, Kutscher, Soldaten, Landleute, Postboten, Schaffner
und unzählige andere im Freien sich bewegen müssende Stände
von der Unbill der Natur zu leiden haben. Sind diese Wider-
wärtigkeiten in der gemäßigten Zone schon groß genug, um den
sehr vereinzelt auftretenden Naturgenuß zu überwiegen, so wachsen
dieselben in den kalten und heißen Zonen geradezu in's Unge-
heuerliche. So sind allein in Japan nach historisch verbürgten
Angaben viele Millionen durch Erdbeben getödtet worden, wäh-
rend in Südamerika kein Jahr vergeht, ohne durch Erdbeben
ganze Städte zu vertilgen. Ebenso schrecklich sind die durch
wilde Thiere in den heißen Ländern angerichteten Verwüstungen,
wie denn z. B. allein in Bengalen jährlich ungefähr 10,000
Menschen Tigern zur Beute fallen, während nur in Nieder-
Bengalen in den Jahren 1864—1870 nach dem Berichte des
Lord Ettrik 13,400 Menschen durch reißende Thiere umge-
kommen sind und ebenso viele, wo nicht mehr, durch Schlangen.
Wer zählt die Schiffbrüche, welche seit der Entdeckung Amerikas
vorfielen? Wer vermag auch nur annähernd die Zahl von Un-
glücksfälleu und die Summe des Leides anzugeben, welche in
einem Jahre durch Naturgewalten und Ereignisse hervorgerufen
werden? Es ist unberechenbar — und wenn H. ein Vorwurf
zu machen ist, so ist es der, daß er diese kolossale Leidenssumme
in seiner Abwägung von Leid und Lust nicht mit in Rechnung
gezogen und dadurch seinem Beweise der überwiegenden Unlust
eine bedeutende Stütze vorenthalten hat."
Dies ist Alles, was der Verfasser über diese Seite des
Natureindrucks sagt; allein zureichend scheint uns dies'keines-
wegs. Es hätte untersucht werden müssen, ob die Eindrücke,
welche die einzelnen Sinne von der Natur empfangen, mehr
Unlust als Lust gewähren, ob z. B. die unangenehmen Gerüche
die angenehmen, die mißtönenden Laute die wohltönenden u. s. f.
überwiegen. Die bloße Vernichtung von Menschenleben durch
Erdbeben, Schiffbrüche, Blitzschläge u. s. f. fällt für diese Frage
viel weniger in's Gewicht als das Plus oder Minus an Lust,
welches die normalen Zustände der Natur gewähren. Es scheint
uns, als ob der Vers, bei dieser Untersuchung mehr das quan-
titative als das Gradverhältniß zwischen den beiden Faktoren im
Auge hat. Ob aber z. B. hundert Menschen bei einem Schiff-
bruch untergehen oder zehn, ist für die Beurtheilung des Leidens,
welches solch' Unglück bewirkt, indifferent. Ohnehin ist — um dies
nur beiläufig zu erwähnen — der Schiffbruch Etwas, woran die
Natur weniger Schuld trägt, als der Wille des Menschen, welcher
mit dem Bewußtsein der Gefahr, in die er sich begiebt, derselben
aus mehr oder weniger selbstsüchtigen Gründen trotzt.
Außerdem aber giebt es Momente, welche gleichsam den
Uebergang von dem blos materiellen Genuß der Natur zu dem
ästhetischen bilden; z. B. die Freude am Wachsthum der Pflanzen
und Bäume, welche der sie pflegende Gärtner, die Lust am Ge-
deihen des Getreides auf den Feldern, welche der Bauer em-
pfindet. Hier ist nur die Frage, ob die Menge solcher Genüsse
größer sei als die der Enttäuschungen, welche durch Mißwachs
oder elementare Ursachen hervorgerufen werden.
Der Verfasser geht nun zu der ästhetischen Seite der Frage
über, indem er bemerkt: „Die Betrachtung Dessen, was die
Natur dein Menschen an Leid und Lust gewährt, ergiebt nun
aber auch, speciell auf den ästhetischen Naturgenuß angewendet,
das Vorhandensein eines großen Mancos, denn auch dieser Ge-
nuß ist, tvie so viele andere sogenannte, erst möglich durch einen
Mangel, ein Bedürfniß, durch das Entfremdetsein von der Natur.
Der Naturgenuß ist ein durchaus moderner, der selbst in unserer
Zeit nur einem kleinen Theile der Menschheit zu Theil wird.
Den Griechen war er fremd, ist es heute noch Allen, welche
in engem Zusammenhänge mit der Natur leben, also z. B.
den Landleuten, während er den Städtern gegeben ist, sowie
jenen Gebildeten, welche, wenn auch nicht praktisch, so doch
theoretisch von der Natur sich entfernt haben. Die Spaltung
zwischen Natur und Geist, welche das Hellenenthum nicht kannte
und die erst durch das Christenthum in die abendländische Kul-
tur eingeführt wurde, erreichte ihren Gipfelpunkt im christlichen
Mittelalter, welches ebenfalls des Naturgenusses entbehrte, nur
freilich aus entgegengesetzten Motiven. Denn während das
Hellenenthum sich „Eins" mit der Natur empfand und auf
diese Weise zu keinem Genüsse des Gleichgearteten kam, fühlte
das christliche Mittelalter sich durch eine unübersteigbare Kluft
von der Natur getrennt, welche letztere unheilig und ungeistig
dem auf die höchste Spitze getriebenen Kultus des Geistes
gegenüberstand. Erst die Reformation und Renaissance er-
innerte sich wieder der verlorengegangenen Natur, und die
Sehnsucht zur Rückkehr nach derselben steigerte sich mehr und
mehr, bis sie in dem auf der Grenze der modernen Zeit stehen-
den Jean Jacques Rousseau zum leidenschaftlichsten, beinahe
krankhaften Ausbruche kam und auch auf unberechtigte Gebiete
ausgedehnt wurde. Dieser von Rousseau angeschlagene Ton
zitterte darauf noch lange nach, wie die enthusiastischen und
größtentheils überschwenglichen Naturschilderungen eines Klop-
stock, Hölty, Kleist, Jean Paul rc. rc. beweisen, bis diese Natur-
schwelgerei mehr und mehr verflachte und ans dem Erbtheil krank-
haft erregter Geister ein heutzutage ziemlich sanft dahinfließender
Strom des Genusses für solche Gemüther ward, in denen sich
die Versöhnung zwischen Natur und Geist erst theilweise voll-
zogen hat. Diese Spaltung aber ist es allein, welche den Ge-
nuß ermöglicht, denn wo der Geist und das Bewußtsein sich
selbst als einen Theil der Natur empfindet, sehnt er sich nicht
nach ihr und nach der Rückkehr zu ihrem scheinbaren Frieden,
wie das Beispiel eines Winkelmann und Lessing beweist. Das
Gemiith nur, welches sich außerhalb des Kreises der Natur
stehend glaubt, wünscht zu ihr heimzukehren und freut sich ob
der scheinbaren Stille und Klarheit, welche sie athniet im Gegen-
satz zu dem schmerz- und reflexionsdurchwühlten Menschengeiste.
Geht man nun aber diesem Gefühle auf den Grund, so
ist es weiter nichts als die verschleierte Friedenssehnsucht der
Kreatur, der Nirvanazug, welcher durch alle Wesen geht, das
unbewußte Ringen alles Seins, wieder zur Ruhe zu kommen
und üt den Hafen des Nichts wieder einzulaufeu, welches
Ringen am heftigsten laut wird in der Menschenbrust und zum
klarsten Bewußtsein kommt im Menschengeiste. So ergiebt sich