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Die Dioskuren: deutsche Kunstzeitung ; Hauptorgan d. dt. Kunstvereine — 20.1875

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https://doi.org/10.11588/diglit.13551#0064

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und sich deshalb der Landschaft in viel harmonischerer Weise
anschließt, als dies bei menschlichen Figuren, namentlich wenn
sie in Kleidung und Habitus an die sociale Kultur erinnern,
der Fall ist. Nichts stört in einem Landschaftsbilde mehr als
die Erinnerung an das künstliche Leben der konventionellen Welt,
z. B. Picknicks oder englische Touristengruppen mit ihrem ganzen
Krimskram von gentilem Comfortbedürfniß u. dergl., während
Bauern, Jäger, Hirten, Räuber und zwar nicht nur des
Kostüms halber (denn so pittoresk es sein mag, mit der land-
schaftlichen Natur hat es nichts zu thun), sondern weil wir den
Eindruck haben, daß sie gar nicht über die Natur reflektiren,
d. h. ihre Reize detailliren, gar nicht über sie, sondern nur
in und mit ihr sich als gemeinsames Ganzes empfinden. Ein
Hirt oder eine Hirtin bei einer weidenden Rinder- oder Schas-
heerde macht daher in keiner Weise, wie etwa ein touristender
Gentlemen, einen Fleck in der Natur, sondern gehört ebenso
naturgemäß zu seinen Thieren, wie diese zur Weide: d. h. sie
bilden sämmtlich Momente der Landschaft selbst, und es recht-
fertigt sich daher umgekehrt der Nachdruck, der bei solchen Thier-
darstellungen auf die landschaftliche Umgebung gelegt wird.

In noch entschiedenerer Weise wie bei weidenden Rindern,
Schafen, Ziegen u. s. f. kamt auch bei der Darstellung freier
Feld- und Waldthiere ein bedeutender Nachdruck auf die um-
gebende Natur gelegt werden, weil das freie, bez. wilde Thier
an sich mit der Natur in viel innigerem Konnex steht als das
zahme Hausthier, wie dies schon in letzterem Namen ausge-
sprochen ist. Dennoch ist nach der einen oder andereit Seite
hur immerhin eine Unterordnung aus künstlerischen Gründen zu
empfehlen. Ist daher das Thier oder die Thiergruppe Haupt-
gegenstand der Darstellung, so muß die landschaftliche Umgebung
nur soweit in Betracht gezogen werden, als sie eben den lokalen
Charakter des Thieres näher bestimmt, sowohl räumlich wie vom
Gesichtspunkt der Ausführung aus. Ist dagegen die Landschaft
und ihre Stimmung künstlerisches Hauptmotiv, so dient die Thier-
stasfage nur dazu, diese Stimmung näher zu charakterisiren, und
es wäre daher ein Fehler, das Thier allzu sehr hervorzuheben.

Es giebt über diese beiden ersten Stufen hinaus aber noch
eine dritte Stufe der realistischen Thierdarstellung, wenn nämlich
das Thier im Affekt oder überhaupt in einer bestimmten
Lebensäußerung sich zeigt; es ist diejenige Darstellung des Thier-
charakters, welche wir als „Thiergenre" bezeichnen können, wel-
ches, wie das menschliche Genre, seine naive, seine humoristische,
ja seine tragische Seite besitzt. Dies ist ein bedeutender Schritt
hinsichtlich der ideellen Verwerthung des Thiers als Motiv künst-
lerischer Darstellung. Denn erst in der Action offenbart sich der
Charakter des Thiers nach seiner geistigen Seite, worunter so-
wohl das Temperament wie das intellektuelle Leben desselben
zu verstehen ist. Es tritt aus seiner allgemeinen Geltung als
Vertreter seiner Gattung heraus, und gewissermaaßen als In-
dividuum auf. Daß diese Erhebung zu einer relativen In-
dividualität in dem Thiere vorhanden ist, geht schon daraus
hervor, daß sie bei den weniger intelligenten Thieren in viel ge-
ringerem Maaße bemerkbar wird als bei den geistig begabteren.
Eine Kuh z. B., ein Hammel, eine Gans u. s. w. sind säst
nur Gattungsrepräsentanten; wir sagen „fast": denn wer sich
speciell mit ihnen beschäftigt, sich sozusagen in ihr Leben hinein-

lebt, wird bald erkennen, daß eine vollkommene Gleichheit und
Unterschiedslosigkeit, auch in geistiger Beziehung, nicht vorhanden
ist, und daß z. B. trotz aller scheinbaren Gleichheit in dem
Ausdruck des Schafsmäßigen doch keine zwei Hammel gefunden
werden dürften, die durchaus denselben physiognomischen Typus
dieses Ausdrucks zeigen. So werden die zu Stier- und Hahnen-
kämpfen bestimmten Thiere nicht nur in Rücksicht ans ihre Kraft
und Gelenkigkeit, sondern auch in Beziehung auf ihre geistigen
und moralischen Qualitäten, ihr Temperament, ihren Muth, ihre
Ausdauer u. s. w. geprüft, und diese von den Kennern in genauer
Weise charakterisirt. Also nicht nur das mehr oder minder
Vorhandensein solcher Eigenschaften bei dem einen und andern
Thier gleicher Gattung, auch die verschiedene Zusammensetzung
und Mischung derselben bestimmen den individuellen Charakter
des einzelnen Thiersubjekts.

Wenn daher auf den früheren Stufen, welche das Thier
in Ruhe zeigen, die Darstellung sich mit ihm hauptsächlich als
Repräsentanten seiner Gattung befaßt und die Aufmerksamkeit
vornehmlich auf die prägnante Wiedergabe des Gattungs-
charakters sich richtet, so tritt auf der dritten Stufe die For-
derung auf, den individuellen Charakter des Thieres
in's Auge zu fassen. Die Darstellung des Gattungscharakters
ist übrigens sehr wohl mit der Auffassung und Festhaltuug von
Verschiedenheiten der einzelnen Thiere — wenn es sich etwa
um eine Gruppe derselben handelt — vereinbar; ja sie ist in
solchem Falle geboten. Aber diese Unterschiede, welche auf der
Verschiedenheit des Alters, Geschlechts, der zufälligen Stärke,
der Färbung resp. beruhen, sind immerhin äußerliche und wenig-
stens nicht im strengsten Sinne des Worts individuelle. Erst
in einer Action, welche die geistigen Potenzen des Thieres in
Anspruch nimmt, tritt eine physiognomische Jndividualisirung ein;
natürlich also hauptsächlich bei solchen Thieren, die überhaupt
eine zur Action geneigte Natur haben.

Im Thiergenre, wie wir der Kürze halber die Dar-
stellung des Thieres vom Gesichtspunkte seiner individuellen
Physiognomik nennen wollen, findet nun die Kunst deshalb be-
sonders einen reichen Stoff, weil es nach allen Seiten hin ein
naives Spiegelbild — und wäre es auch nur ein karrikirtes —
der menschlichen Natur darbietet. Das Familienleben der
Thiere, die Zärtlichkeit und Ausopferungsfähigkeit der Mutter-
liebe, die täppische Unbeholfenheit und drollige Schalkhaftigkeit
der Jungen, ihre Lust zum tändelnden Spiel, ihre Schalkhaftig-
keit; andrerseits die Eifersucht, der Zorn und Haß, welcher sich
bei feindseliger Annäherung ausspricht, die Hinterlist und Schlau-
heit, mit der gewisse Thiere ihren Feinden auslauern: alles Dies
und tausenderlei Mehr gewährt ein Abbild menschlicher Gefühle
und Leidenschaften. Und hierin beruht hauptsächlich der Reiz sol-
cher Darstellungen; ein Reiz, der oft — selbst bei humoristischen
Darstellungen; — mit einem leichten Beigeschmack von Senti-
mentalität versetzt ist. Es ist uns fast, als ob die Thiergestalt
nur eine unfreiwillige Maske wäre, zu welcher die Natur das
Thier verurtheilt habe. Aber diese Melancholie, welche aus
dem Gefühl der Differenz zwischen dem uns in solchem Falle
menschlich anmuthenden Empfinden des Thieres und seiner thier-
haften Gestalt entspringt, fügt der Darstellung nur einen neuen,
wahrhaft poetischen Reiz hinzu. (Forts, folgt.)
 
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