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Dörpfeld, Wilhelm; Reisch, Emil
Das griechische Theater: Beiträge zur Geschichte des Dionysos-Theaters in Athen und anderer griechischer Theater — Athen, 1896

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https://doi.org/10.11588/diglit.5442#0379

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VII. Abschnitt. Die Bühnenfrage.

als Beweis für Vitruvs Angabe, und Vitruvs Bühnenspiel als Stütze für die An-
nahme eines Bühnenspiels in älterer Zeit angeführt wird. Vielmehr weist gerade
die Stelle, welche die Bühne im römischen Theater einnimmt, aufs Deutlichste
darauf hin, dass das griechische Proskenion keine Bühne gewesen sein kann.

So schliesst sich mit dem der Entwickelungsgeschichte des Theaters entnom-
menen Argumente der Ring der Beweise gegen die Auffassung des Proskenion
als Bühne und berechtigt uns zu dem zwingenden Schlüsse, dass das Proskenion
des hellenistischen Theaters keine Bühne für die Schauspieler, sondern der Hin-
tergrund für ihr in der Orchestra stattfindendes Spiel gewesen ist.

Vitruv muss sich also irren, wenn er angiebt, dass die tragischen und komi-
schen Schauspieler auf dem Proskenion aufgetreten seien. Dürfen wir aber einen
solchen Irrtum annehmen und wie kann er entstanden sein ?

Man erklärt es vielfach von vornherein für unmöglich, dass sich Vitruv in
einem so wichtigen Punkte geirrt haben könne. Warum aber ein römischer Bau-
meister bei der Erklärung eines griechischen Baues nicht auch einmal einen Irr-
tum begehen konnte, ist nicht einzusehen. Gewiss hatte Vitruv, als er sein Buch
schrieb, die Pläne und Beschreibungen griechischer Theater vor sich, denn seine
Angaben über die Gestalt, die Abmessungen und selbst die Namen der einzel-
nen Bauteile sind vollkommen richtig; aber in diesen Schriften brauchte nicht
ausdrücklich gesagt zu sein, wo die Schauspieler zu stehen pflegten. Wenn unsere
Darlegungen richtig sind, so konnte ein griechischer Architekt überhaupt nicht
auf den Gedanken kommen, dass jemals irgend einer das Dach des Proskenion
für den gewöhnlichen Standplatz der Schauspieler halten könne. Ganz anders
aber lag die Sache für einen römischen Architekten ; bei ihm konnte ein sol-
cher Irrtum durch die Thatsache, dass in den römischen Theatern auf einer
Bühne gespielt wurde, und die Bühne ihm als wesentlicher Teil des Theaters
erscheinen musste, immerhin hervorgerufen werden.

In Italien und namentlich im alten Rom war man seit Alters daran gewöhnt,
die Schauspieler auf einer Bühne auftreten zu sehen, weil die Zuschauer auf ebenem
Boden zu sitzen oder zu stehen pflegten, und weil kein Chor vorhanden war. Wie
eine solche Bühne ursprünglich gestaltet war, ist aus den im VI. Abschnitt bespro-
chenen Vasenbildern mit Darstellungen italischer Possen bekannt, und wie sie
später aussah, kann man in jedem römischen Theater sehen. Vitruv, der viel-
leicht nie einer skenischen Aufführung in einem griechischen Theater beigewohnt
hatte, fand in den Plänen der griechischen Theater vor der Skene, also ungefähr
an der Stelle, wo im römischen Theater der hintere Teil der Bühne lag, einen
Vorbau, der zwar höher und schmaler war als das römische Logeion, aber im-
merhin die äussere Gestalt einer Bühne hatte. Vielleicht fand er sogar (vgl.
oben S. 303) für den Vorbau den Namen Xo-j-sTov, da er ihn ausdrücklich als die
griechische Bezeichnung für das Pulpitum nennt. Wenn er nun annahm, dass
auf diesem Vorbau, ebenso wie auf der römischen Bühne die Schauspieler auf-
getreten seien, so lässt sich das wenigstens entschuldigen. Ausserdem pflegten
 
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