PRIMITIVE KUNST UND
KÜNSTLICHE PRIMITIVITÄT
FRIEDRICH ALFRED SCHMID NOERR
Die Künste drücken sich aus in einer Sprache des Gemütes, die immer
in Schwebung über dem Ausgesprochenen schwingt und darum,
weil geistig, flüchtig, ungreifbar, am sichersten hofft, verschont zu
bleiben von Nachäffung und Fertiglieferung. Aber es ist ein Irrtum, den
Geist für gehürnt zu halten. Es gibt auch die Sünde wider ihn. Die gefälschte
Schwingung über dem Werk ist eben darum auch der ruchloseste Betrug im
Kunst# Betrieb.
In der Kunst, die gilt, ist keine Zeit. Darum, weil wir nie zu spät kommen
werden, wo Zeit nicht ist, steht auch dem Künstler ein Besinnen wohl an.
Man hat die Kunst sehr oft die Welt des Scheins genannt. Nun aber ist ein
gemalter Apfel, ein gedichteter Held, gewiß um nichts weniger wirklich,
als der Apfel vom Baum und als der heldische Mensch der Geschichte.
Ebenso wirklich, als die gehäuften Entzündungen chemischer Massen, ist
die Schlacht und der Sieg. Und um nichts weniger wirklich, als jeglicher
seiner Steine, ist der Dom. So gesagt, scheint dies eine alltägliche Wahr#
heit. Aber der Streit ist dennoch entbrannt, über Jahrtausende hin, der bald
dem Sein der natürlichen Dinge, bald dem Sein der schöpferischen Ge#
danken den Vorrang der höheren, ja der einzigen Wirklichkeit zuspielen
will.
Zu Grund liegt aber der Widerstreit unserer Bestimmung. Mit Leib und
Seele sind wir geborene Bürger der Erde. Uns faßt das Naturgesetz, ordnet
uns ein und gebietet uns so, wie unser Verstand es begreift. Da ist mit dem
ersten Schrei der Geburt eine Kette der Wirkungen angesetzt, die zwangs#
läufig weiterdrängt.
Im Geist aber finden wir uns, zu keiner Zeit, die zu nennen ist, erwacht
zur Ichheit. Da offenbart sich ein anderes Gesetz. Nicht außer uns verhängte
Gewalt herrscht, nicht Fremd — Verhängnis des Ursachenzwangs; vielmehr
ein inneres Fließen selbstsicherer Gesetze darstellender Tat; unmüßig#strenge
sich ordnende Form; Selbstoffenbarung des Schöpferisch#Seins; unvor#
begriffne Gewißheit.
Taucht nun in jenes Feld dinghafter Verknüpftheit der Wille — man nenne
ihn: »frei«, oder, was uns dasselbe sagt: »schöpferisch« — der aus der Ebene
zeitlos#geistiger Wirksamkeit stammt, so ordnet sich Ursachenablauf mit
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KÜNSTLICHE PRIMITIVITÄT
FRIEDRICH ALFRED SCHMID NOERR
Die Künste drücken sich aus in einer Sprache des Gemütes, die immer
in Schwebung über dem Ausgesprochenen schwingt und darum,
weil geistig, flüchtig, ungreifbar, am sichersten hofft, verschont zu
bleiben von Nachäffung und Fertiglieferung. Aber es ist ein Irrtum, den
Geist für gehürnt zu halten. Es gibt auch die Sünde wider ihn. Die gefälschte
Schwingung über dem Werk ist eben darum auch der ruchloseste Betrug im
Kunst# Betrieb.
In der Kunst, die gilt, ist keine Zeit. Darum, weil wir nie zu spät kommen
werden, wo Zeit nicht ist, steht auch dem Künstler ein Besinnen wohl an.
Man hat die Kunst sehr oft die Welt des Scheins genannt. Nun aber ist ein
gemalter Apfel, ein gedichteter Held, gewiß um nichts weniger wirklich,
als der Apfel vom Baum und als der heldische Mensch der Geschichte.
Ebenso wirklich, als die gehäuften Entzündungen chemischer Massen, ist
die Schlacht und der Sieg. Und um nichts weniger wirklich, als jeglicher
seiner Steine, ist der Dom. So gesagt, scheint dies eine alltägliche Wahr#
heit. Aber der Streit ist dennoch entbrannt, über Jahrtausende hin, der bald
dem Sein der natürlichen Dinge, bald dem Sein der schöpferischen Ge#
danken den Vorrang der höheren, ja der einzigen Wirklichkeit zuspielen
will.
Zu Grund liegt aber der Widerstreit unserer Bestimmung. Mit Leib und
Seele sind wir geborene Bürger der Erde. Uns faßt das Naturgesetz, ordnet
uns ein und gebietet uns so, wie unser Verstand es begreift. Da ist mit dem
ersten Schrei der Geburt eine Kette der Wirkungen angesetzt, die zwangs#
läufig weiterdrängt.
Im Geist aber finden wir uns, zu keiner Zeit, die zu nennen ist, erwacht
zur Ichheit. Da offenbart sich ein anderes Gesetz. Nicht außer uns verhängte
Gewalt herrscht, nicht Fremd — Verhängnis des Ursachenzwangs; vielmehr
ein inneres Fließen selbstsicherer Gesetze darstellender Tat; unmüßig#strenge
sich ordnende Form; Selbstoffenbarung des Schöpferisch#Seins; unvor#
begriffne Gewißheit.
Taucht nun in jenes Feld dinghafter Verknüpftheit der Wille — man nenne
ihn: »frei«, oder, was uns dasselbe sagt: »schöpferisch« — der aus der Ebene
zeitlos#geistiger Wirksamkeit stammt, so ordnet sich Ursachenablauf mit
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