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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 3.1921/​1922

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Blessinger, Karl: Das Formproblem in der Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.44743#0308

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DAS FORMPROBLEM
IN DER MUSIK
KARL BLESSINGER
Der bekannte Vergleich zwischen Architektur und Musik birgt eine
tiefere Wahrheit in sich, als man bei flüchtiger Betrachtung zuzugeben
geneigt sein könnte. Die größte Intensität der Wirkung eines Kunst#
Werkes wird hier wie dort nur dann möglich sein, wenn dieses neben
der Erfüllung seiner praktischen Zweckbestimmung noch einen starken
Empfindungsausdruck bietet. Zwischen Zweckform und Ausdruck bestehen
tiefste Zusammenhänge, deren Verkennung auf architektonischem wie auf
musikalischem Gebiete in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer
schweren Krisis geführt hat, in der eigentlich zum ersten Male das Problem
der Form als grundsätzliches Problem aufgestellt und erkannt worden ist.
Die Art und Weise der Problemstellung aber beruht auf einem Mißverstände
nis, das nur in einer Zeit denkbar ist, in welcher die künstlerische Entwick#
lung auf einer Grundlage erfolgt, die jeden Zusammenhang mit der allge#
meinen Entwicklung des Zeitgeistes verloren hat. Dies war in der Zeit, da
die erwähnte Krise akut geworden ist, ganz zweifellos der Fall. Die Gründe,
die dazu geführt haben, daß dieser Zusammenhang verloren ging, sind sehr
verwickelter Art. Daß die Kunst mit Absicht sich abseits gestellt hat, ist zum
mindesten für die Zeit des Beginnes der Krise nicht zutreffend. Im Gegen#
teil, sie suchte die Verbindung mit der Gesamtkultur zunächst mit aller Kraft
aufrechtzuerhalten; aber freilich tat sie dies mit falschen Mitteln, die wiederum
einem grundsätzlichen Mißverständnis entsprangen. Die Romantik hat gewiß
auf alle Gebiete des kulturellen Lebens einen starken Einfluß ausgeübt; aber
dieser Einfluß war vorübergehend und ist in mancher Hinsicht niemals sehr tief
gegangen, wie das Schicksal des Aufstandes von 1848 beweist, in dessen Vor#
geschichte und Verlauf ja romantische Ideen eine bedeutsame Rolle spielen.
Die Niederwerfung dieser Erhebung bedeutet praktisch das Ende der Ro#
mantik, die dafür auf künstlerischem Gebiete eine um so zähere Lebenskraft
bewies. Nicht als ob die Kunst mit Bewußtsein und Absicht am romantischen
Ideal festgehalten hätte; im Gegenteil, sie machte die lebhaftesten Anstren#
gungen, um die Romantik zu überwinden. Diese Bemühungen mußten aber
ohne Erfolg bleiben, weil die grundsätzlichen Anschauungen vom Wesen
der Kunst diejenigen der Romantik geblieben sind.
Die Wurzel des unheilvollen Zwiespalts zwischen Kunst und Leben ist in
der merkwürdigenVerschiedenartigkeit der Auswirkungen der romantischen,
speziell der Hegelschen Philosophie zu suchen. Die Hegelsche Philosophie
war es, die der »Reaktion« die geistigen Waffen zur Niederhaltung der Be#
wegung von 1848 und damit zur tatsächlichen Ausrottung der romantischen
Lebensauffassung gab; von ihr ausgehend haben aber auch neu aufstrebende
Bewegungen, der Liberalismus sowohl wie der Sozialismus, sich ihre geistigen

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