Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 3.1921/​1922

DOI article:
Michel, Wilhelm: Gott und die Sprache
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.44743#0066

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
GOTT UND DIE SPRACHE
WILHELM MICHEL
Wrenn ein Blitz durch die Wolken fährt, sagen wir: Es blitzt. Die
Erscheinung des Blitzes ist eins und ungeteilt. Der Ausdruck aber teilt
sich sofort in zwei Teile von verschiedenem funktionellem Sinne, in
Subjekt und Prädikat.
Dieses Subjekt wird nicht aus der Erscheinung des Blitzes, sondern aus der
Sprache geboren. Es ist und bleibt im angeführten Beispiel eine rein formale
grammatische Funktion. Dieses »Es blitzt« stellt das Blitzen noch nicht etwa
klar als Handlung eines unbekannten »Es« hin. Aber die Teilung ist immer*
hin vollzogen. Die mythologische Ausdeutung des Vorganges als Handlung
hat begonnen. Die Geburt des Subjektes aus etwas fraglos Ungeteiltem hat
stattgefunden.
Die Sprache ist triebhaft mythologisch, weil sie notgedrungen dualistisch
ist. Schon in den einfachen grammatischen Funktionen ist ein Wetterleuchten
von Mythus. Was ewig Eines ist, muß die Sprache auseinanderlegen. Sie
verabscheut die Einheit und das Ungeteilte. Die Sprache vollbringt seit je
die dramatische Entfaltung des Weltbildes in Subjekt und Prädikat, in Haupt*
wort und Beifügung, in Hauptsatz und Nebensatz.
Die »Seele«, das, was nicht spricht, nur fühlt und innerlich anschaut, geht
auf die Einheit. Der Ausdruck aber muß scheiden. Die Welt als Ganzes ist
dem Bilde einer Landschaft vergleichbar, vor deren fließende, lebendige
Linien die Sprache ein Netz von starren Hilfslinien webt. Durch diese Hilfs*
linien wird das in sich einheitliche Bild in faßliche Ausschnitte, Quadrate,
zerlegt. Vor die geschlossene Erscheinung des Weltganzen muß der Aus*
druck, so oft überhaupt von der Welt gesprochen wird, seinen notgedrungenen
Mythus weben. Die Welt und die Einheit sind das Unfaßliche; der Mythus
ist das Faßliche. Wie er aus der Erscheinung des Blitzes das Subjekt gewinnt,
so gewinnt er auch Handlung, Drama, Subjekt aus der Welt. Sobald wir
sprechen, ist »Gott« virtuell vorhanden.
Daraus ergibt sich zweierlei.
Fürs erste: Der naive religiöse Mensch, der ganz an der Sprache entlang
denkt, reißt den Gott ewig aus der ungeteilten Einheit heraus. Da er dem
Polarisierungstriebe der Sprache wehrlos unterliegt, vollbringt er in aller*
erster Linie die Trennung von Geist und Stoff, von Gott und Welt. Insofern
ist die Sprache das Material, in dem sich zuerst die Verwirklichung des Gottes,

56
 
Annotationen