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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 3.1921/​1922

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Saekel, Herbert: Werturteile
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https://doi.org/10.11588/diglit.44743#0106

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WERTURTEILE

HERBERT SAEKEL


elbst wenn die ganze große Umwälzung, in der wir stehen, letztlich ohne jedes positive

k_xErgebnis bleiben sollte — wie skeptische und quietistische Zeitgenossen tagtäglich uns
prophezeien, wenn weder der »neue Mensch« noch die »neue Ordnung« jemals Wirklich«
keit werden sollte-einen Erfolg wird man dieser Bewegung nicht abstreiten können:
sie hat uns eine Fülle neuer — Schlagworte, wenn man will: neuer Begriffe gebracht. Die
»Verreichlichung«, die »Verankerung« einer Idee oder eines Systems in den Hirnen, der
Verfassung, den Sternen, das »Sich«auf«den«Boden«der«Tatsachen«stellen« und ähnliche Prä«
gungen werden in edlem Talmiglanz als ewig leuchtende Symbole dieser »großen Zeit« dem
Bestände unserer Sprache einverleibt bleiben. Und werden — die Tendenz dazu ist schon
jetzt unverkennbar — vom Politischen aus sich auch alle anderen Disziplinen erobern, unab«
hängig davon, ob ein Bedürfnis nach einer Ergänzung und Auffrischung ihrer Terminologie
gegeben ist oder nicht.
Einer dieser Neuprägungen wird man nicht abstreiten können, daß sie eine treffend
kurze Formel für eine Zeiterscheinung sei, die zu kennzeichnen es bislang langatmiger
Umschreibungen bedurft hat, daß also ihre allgemeine Einführung einem Bedürfnis abhelfen
würde. Das »Werturteil«, einzige Errungenschaft der pompös eingeleiteten Unter«
suchungsausschußarbeit (obgleich vorher schon existierend, aber von den Juristen dem all«
gemeinen Gebrauch eifersüchtig vorenthalten), ist in der Tat treffendste Bezeichnung, wirk«
samste Geißel gegenüber einer Art oder vielmehr: Unart sich mit irgendwelchen Problemen
auseinander zu setzen, zu urteilen, die immer unangenehmer sich auf allen Lebensgebieten
breit macht. In der Politik, in wissenschaftlichen Diskussionen, im Streit um Wert oder Un«
wert, Sinn oder Unsinn der jungen Kunst, überall begegnen wir einer bedenklich wachsen«
den Neigung zum jeden Beweis als überflüssig ablehnenden Hochmut, zur bequemen Subjek«
tivität des Werturteils. »Werturteile« — das ist die knappste Formel für eine ernste Krankheit
dieser Zeit; schreien wir sie ihr immer wieder laut ins Ohr! vielleicht daß dies ihr zur Besin«
nung, zur Gesundung verhilft.
Beweise? Ich greife ein Gebiet heraus, das mir besonders nahe liegt und das besonders reich
an Beweismaterial ist: die Literaturkritik. Es gab, behauptet man, in grauen Vorzeiten
einmal ein Geschlecht, das die Literaturkritik als eine ernste wissenschaftliche Angelegenheit
auffaßte. Und einige von uns kennen auch noch seine Zeugnisse: umfangreiche Werke, in
denen mit Sorgfalt und Bescheidenheit, in logischem Aufbau und unter eingehender sach«
licher Beweisführung Dichter und Dichtung gewürdigt wurden, in denen inneren Entwick«
lungslinien, Beziehungen zu anderen geistigen und künstlerischen Disziplinen, Zusammen«
hängen mit zeitlichen oder nationalen Strebungen liebevoll nachgespürt wurde, in denen das
lediglich »geschichtliche« Material: Namen, Zahlen, Daten eine untergeordnete Rolle
spielte, in denen der Dichter die Hauptperson, sein Kritiker nur ein bescheidener und treuer
Diener am Werk war. Und von gleich erfreulicher Sachlichkeit, gleich bedeutsam waren die
Tageskritiken dieser Generation — man sehe sich einmal jene an, die Goethe, Kleist, Schlegel,
Stirner, Kürnberger, Vischer schrieben! Bisweilen freilich wurde diese Methode etwas auf
die Spitze getrieben, sind die Wolff, Grimm, Vilmar, Scherer ein wenig gar zu ausführ«
lieh und abstrakt, wirken sie langweilig und trocken. Und namentlich die Tageskritik des
einzelnen Werkes wurde leicht ein Monstrum, entweder an Umfang, oder — war sie ge«
bührend kurz gehalten — an fast gewaltsamer Konzentration weitspannender Gedanklichkeit.

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