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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 3.1921/​1922

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Taut, Bruno: Mein Weltbild
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https://doi.org/10.11588/diglit.44743#0291

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MEIN WELTBILD

BRUNO TAUT


ein Weltbild, d. h. ich trage in mir ein Bild von der Welt. »Ich« —

ein Mensch, ein (anscheinend) unteilbarer, ein Individuum. Das

X .1. Weltbild ist ein Produkt des Menschen — zunächst! Es entsteht aus
seiner spezifischen Erdgebundenheit. Sein Bewußtsein, sein »Geist« zieht in
dieserGebundenheit seine Nahrung aus der Wahrnehmung. Und diese Wahr?
nehmung beruht auf den fünf Sinnen. Eine feste Zahl, ein festes abgeschlos?
senes Gebiet.
Daraus meine erste Forderung: alles was offensichtlich »jenseits« liegt, näm?
lieh dieses Gebiets, von menschlichem Eingriff unberührt zu lassen, also
alles vor Beginn und nach Ende unseres Leibes »unser« Schicksal vor der
Geburt und nach dem Tode. Wo die Möglichkeit besteht, daß unsere fünf
Sinne entweder ganz aufhören oder teilweise oder auch vermehrt oder durch
ganz andere ersetzt werden, da ist ein anderes Reich als dieses. Das gehört
im vollsten Sinne ins Umsagbare, und wir haben nur ein Wort: Nichts.
Meister Eckhart: Ihr müßt das Nichts in Euch haben — oder: Gott ist Nichts.
Jede Spekulation auf diesem Gebiet muß also nur eine Spekulation bleiben,
also auch die Wiedergeburt und dergl. (Der Beginn geistiger Deutung bei
Gustav Theodor Fechner, Büchlein vom Leben nach dem Tode, sodann bei
Edgar Allan Poe, Versuch über das geistige und materielle Weltall und bei
den Dichtungen Paul Scheerbarts, inmitten der Hochflut des Naturalismus.)
Dies erscheint vielleicht als Nihilismus, ist für mich aber eine große Be?
jahung. Es ist der sichere Glaube, daß alles Jenseits ein Unerschöpfliches ist,
die große Mutter, Gebärerin und Nährerin, ein Meer, das die unendlichfachen
Quellen entstehen und in sich hineinströmen läßt. Wir müssen es lieben,
uns ewig nach ihm sehnen, und wenn sich Einzelne aus Übermaß des Leides
oder des Glücks hineinstürzen — zeigt es nicht, wie gern das Meer sie auf?
nimmt! »Was geschieht mit mir nach dem Tode?« Seltsame Frage, wo »Du«
dann ja nicht mehr da bist. Stirb gern! — dann ist alles gut. Wie du in den
Wald rufst, so schallt es zurück.
Aber — keine Abgrenzung ist vollkommen.Überall reflektiert, funkelt irgend?
wie »das Andere« in das Individuum hinein, und also auch das »Nichts«.
Und umsomehr, je mehr man das »Andere« liebt. Daher auch die Eigen?
schäft des schöpferischen Menschen am meisten vielleicht zu fassen in der
Sehnsucht nach Auf hebung der Individualität, nach Durchbrechung ihrer
Grenzen durch Aufnahme des »Anderen«, nach absoluter Wandlung, und
daher das Neue als eine wesentliche Eigenschaft der Kunst.
Das Andere lieben. Was heißt Liebe? Ein Mensch liebt einen anderen, wenn
er ihn so nimmt, wie er ist, aus reiner Freude an diesem geliebten Sein, und
zugleich, wenn er »sich etwas aus ihm macht«. Also Liebe ist Demut und
Phantasie zugleich. Also auch die Liebe zum — Nichts. Eckhart verlangt
Totsein bei Lebzeiten. Ist nicht jedes Tun ein Sterben, das größte eine Vor?
wegnahme des tatsächlichen Todes? Das Sichverlieren im Werk? Und weil

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