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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 3.1921/​1922

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Zahn, Leopold: Vom Wechselspiel der Gotik und Klassik in der modernen Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.44743#0096

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VOM WECHSELSPIEL DER
GOTIK UND KLASSIK IN DER
MODERNEN KUNST

LEOPOLD ZAHN
s ist in der neuen Kunstliteratur viel von der gotischen Tendenz des
Expressionismus die Rede gewesen. Der Expressionismus, so hieß es,
habe das klassische Prinzip, das jahrhundertelang geherrscht, über#
wunden, er erwecke die neue Gotik.
Verwandtschaften wurden aufgezeigt. Sie waren unverkennbar. Offen lagen
die Beziehungen von Minne, Hodler, Lehmbruck zur Kunst der Kathedralen
zutage. Religiöse Gemälde von Eberz aus den Jahren 1914—17 strebten
gotischen Glasmalereien nach. Grünewald wurde für Kokoschka ein ent#
scheidendes Erlebnis, das ihn von der ornamentalen Stilisierung Klimtscher
Observanz befreite. Von den jungen Franzosen ging Girieud bei den alten
Sienesen in die Lehre, so Gotisches seinem Klassizismus beimengend. Messel
versuchte im Wertheim#Hause gotische Bauformen und #konstruktionen
modernen Zwecken dienstbar zu machen, und manches andere Beispiel
wäre zu nennen. Hier erhebt sich die Frage: war der gotische Zug nicht
schon vorbereitet, und also im 20. Jahrhundert nur fortgezeugt und ent#
wickelt ?
Wie war die Situation im 19. Jahrhundert? Überblickend die Gesamtheit
von Architektur und Plastik und Malerei, wie sie sich seit 1800 ab wickelt
(nicht nach ihren theoretischen Zielen, sondern nach positiv geschaffenen
Werken), erkennt man: weder für das Ganze noch für Epochen noch für
einzelne Nationen ist ein durchgehender einheitlicher Stilwille nachweisbar.
Vielmehr: ein Schwanken zwischen Klassik einerseits und Gotik —Barock
andererseits bildet den Inhalt der Entwicklungsgeschichte der Kunst im ver#
gangenen Jahrhundert. Es ist ein hartnäckiger Kampf zweier Urkräfte, die
sich derart das Gleichgewicht halten, daß der Endsieg einer Partei durchaus
fraglich erscheint.
Aber: ein Kampf im Unbewußten. Zwei Weltanschauungen schlagen auf#
einander los und wissen kaum, daß sie es tun. Es ergibt sich das seltene
Schauspiel, daß gegnerische Kräfte in ein und derselben Front kämpfen. In
ein und derselben! Weil der dritte verhaßteste Feind — Epigonenkunst —
niedergerungen werden muß. Vereint schlagen sich Manet, Van Gogh, Feuer#
bach und Leibi — denn ihnen gegenüber steht, gefährlich und fett, jene
Kunst des Bourgeois, die man in Paris verächtlich als »Salon« kennzeichnet.


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