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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 3.1921/​1922

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Schmid Noerr, Friedrich Alfred: Primitive Kunst und künstliche Primitivität
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https://doi.org/10.11588/diglit.44743#0025

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zeitlichen Aspekt ins Gegenteil. Alles, was seinem innersten und unab?
änderlichen Wesen nach zeitlos ist und über aller Zeit in Ewigkeit verharrt:
das wollen wir mit allen Kräften des Leibes und der Seele erstreben, er?
raffen, erschaffen »mit der Zeit«.
Zuletzt erscheint derart verwirrtem Denken und Instinkt selbst Gott als
»Ziel«, nämlich als das gelungene Virtuosenstück einer endlich ge?
nügend präzis entwickelten Humanität.
Anstelle der Erlebniskraft bleibt uns nichts übrig, als der Hang nach Rich?
tungen, die Hast nach formulierten Theorien, die streberische Anlehnung
an noch so fremde, künstlerische Offenbarung, weil ihr innewohnt, was uns
am meisten fehlt: Beschlossenheit.
Der streberische Wille, statt im Kreis geschlossenen Umstroms schöpfe?
rischer Kräfte sich dem Geschenk bereit zu halten, wird zum Pfeil und fliegt,
die Eigenkraft im Flug verzehrend, auf ein verfälschtes Ziel, das, wie die
Spiegelung der Wüste, nie erreichbar ist. Denn: alles Ziel liegt in uns, nie?
mals vor uns.
Der Irrtum, primitive Kunst erkennerisch erjagen, nachempfindlerisch je
wiederholen zu können, ist nun entblößt. Die Frage ist nur noch: warum er?
liegt gerade unser zeitgenössisches Bemühen um die Künste ihm so sehr?
Die inneren Gründe sind nicht augenblicksverhaftet. Sie sind immer da.
Und darum sind zu allen Zeiten, leise oder laut, Begabungen zur Hand, die
ohne Kraft zum eigenen Erlebnis sind, die ohne inneren Auftrag bleiben.
Zu Zeiten bürgerlicher Enge und noch nicht überreizter Intellektualität
mögen solche Begabungen wohl ins Handwerk abgewandert und dort nütz?
lieh gewesen sein. In unseren Tagen kann davon nicht mehr die Rede sein.
Die »öffentliche Meinung« überwuchert jeden Eigenwillen zum Erlebnis,
der nicht stärker ist als sie. Die Presse, die ihr Träger ist, vervielfacht täglich
diese Wirkung durch den grenzenlosen Austausch ihrer Marktmeinungen.
Und diese Austauschgüter sind so zahllos aufgehäuft, daß Handel und
Verkehr damit nicht möglich blieben ohne Sichtung, Einteilung und Orga?
nisation.
Nun ist das höchstentwickelte technische Können unserer Zeit eben gerade:
Organisation. Die Presse unterzieht sich dieser großzügig zu lösenden Auf?
gäbe. Die Richtungen, die Gruppen treten auseinander. Die Auseinander?
Setzung bringt Zusammenschluß. Die Fähnlein und die Wimpel heben sich.
Die Industrie der Unternehmer begrüßt sie, je nach Konjunktur. Die Presse
macht die Klärung sich zunutze. Gewohnt, das ganze Leben der Geborenen
nicht anders zu verstehen und zu werten, als unter Gesichtspunkten der
Parteiung, ergreift sie auch und fördert sie Partei im Meinungsgewühl der
Kunstbeflissenen. Die Presse, die Verleger, die Gewaltigen des Kunstsalons,

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