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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 3.1921/​1922

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Michel, Wilhelm: Gott und die Sprache
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https://doi.org/10.11588/diglit.44743#0070

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und die innere Identität des Lebens in allen Erscheinungen. Das eigentliche
dichterische Schibboleth ist der Satz: Eines ist, was in allem wirkt und lebt.
Der oberste Begriff des Dichters ist der von der inneren Ungetrenntheit der
Dinge. Er sieht Zusammenhang, Fügung, Bezogenheiten, Abhängigkeiten,
Verschmelzungen. Mit dem Augenblicke, da er dieses Grundgefühl der in#
neren Identität alles Lebens auszusprechen sucht, erfährt er den Widerstand
der Sprache, die auf die Trennungen erpicht ist. Ihm ist nur an der Einheit
gelegen. Die Sprache aber will die Vielheit. Indem er sich nun anschickt,
das triebhafte Zerlegungsstreben der Sprache zu bekämpfen, wird etwas
Neues geboren: die Sprache des Dichters. Sie beruht durchaus auf dem
Kampfe gegen die Trennungen. Man mag die Sprache des Dichters von
irgend einem Punkte her untersuchen, sie zeigt stets das Merkmal, daß sie
Gegensätze aufhebt, Beziehungen nachweist. Sie bewerkstelligt dies auf
verschiedene Arten. Sie gesellt Vorstellungen, die sonst getrennt sind. Sie
bildet innige Gruppen aus einander feindlichen Begriffen, oft im Verhältnis
von Hauptwort und Beifügung. Sie bewegt sich in rascher Flucht der An#
schauungen, läßt eine Vorstellung schnell durch andere verdrängen, so daß
jede nur als Anklang oder als ein sanftes Glänzen im Geiste bleibt. Sie liebt
die Gleichklänge. Sie liebt vor allem das Bild; denn Bilder sind Analogien,
und Analogien sind Beziehungen. In fast allen Schulbegriffen der Poetik,
die ja heute nicht mehr viel Achtung genießen, ist das Gemeinsame die Be#
ziehungsfülle zwischen dem, was eigentlich zweierlei ist; so, wenn der Teil
fürs Ganze steht, oder ein Wort für zwei Begriffe, oder zwei Worte für einen
Begriff, oder wenn parallele Wiederholungen verwandt werden oder Ver#
gleiche. Die Dichtersprache meint, daß alle Benennungen vertretbar sind.
Es ist in ihr ein Zurufen von einem Ding zum andern, ein Vertauschen der
Namen und ein Wiedererkennen. Sie ist voll von Übergängen, Erweiterungen
und Widerhallen. Auf diese Weise arbeitet sie der sprachlichen Individuation
entgegen und gestaltet inmitten der anscheinenden Zerklüftung die intelli#
gible Einheit.
In einen noch ernsteren Kampf mit der Sprache sieht sich der Mystiker ver#
strickt. Dem Dichter ist die Einheit zunächst der Fokus der ästhetischen Be#
glückungen. Dem Mystiker ist sie Lebensnotwendigkeit und fast Lebens#
ermöglichung. Sie ist ihm der Gott, den er in allen Trennungen fühlt. In
allen sprachlichen Äußerungen der Mystik ist das Gemeinsame das Streben
nach dem Ausdrucke der Untergetauchtheit Gottes in der Schöpfung oder
wie man diesen stets gleichen mystischen Urbegriff sonst benennen mag.
Irgendwie ist es stets die Anonymität Gottes, die der Mystiker darzustellen
sucht. Der von der Welt getrennte Gott ist für ihn nicht brauchbar. Da er

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