Feindlich und erbittert, ihr zugekehrt und zur äußersten Konsequenz ent*
schlossen, bemerken sie nicht, wie konträr sie einander sind.
Seht Van Gogh: seht den Ringer mit Gott, mit der Welt. Religiös ebenso mit
jedem Pinselstrich wie mit jeder Lebensäußerung. Von jenen Plastikern, die
auf den Kathedralen von Moissac und Bamberg einen Fanatismus der Gottes?
liebe bekundet haben, der jede irdische Form verzerrt und maßlos steigert,
trennt ihn nichts. Nicht fremd blieben ihm die Verzückungen mittelalterlicher
Ekstatiker, und in einem seiner späten Briefe bekennt er: »Kurz und gut,
ich glaube nicht, daß meine Geistesstörung von der Art des Verfolgungs?
Wahnsinns ist, denn im Zustande der Verzückung machen sich meine Emp?
findungen weit eher über die Ewigkeit und über das jenseitige Leben be?
sorgt.« Seine Briefe sind die einzigen religiösen Dokumente des 19. Jahr?
hunderts, die sich an Echtheit und Inbrunst mit den heiligen Verlautbarungen
religiös Ergriffener früherer Epochen messen können. Der Dogmatismus
Gläubig?Gebundener ist bei ihm Pantheismus geworden: aber das Ich hat
gleiche Substanz.
Anders der frühe Manet; jener Manet, der die Olympia und das dejeuner
sur l’herbe gemalt hat. Hier ordnet sich eine Persönlichkeit restlos in die
Welt ein, bildet um Welt und eigenes Ich eine einzige Harmonie. Die Einheit,
das Ebenmaß, die Norm, die Realität sind alles. Wo findet er sie? Indem er
die Antike begreift: in der Natur. So wird Natur alles. So wird die Gestalt
der Natur alles.
Um noch ein Beispiel aus der Plastik anzuführen: Rodin und Hildebrand.
Alfred Kuhn hat neuerdings in seinem ausgezeichneten Buche »Die neuere
Plastik seit 1800« (Delphin?Verlag München 1921) darauf hingewiesen, daß
im gleichen Jahre (1884), als Rodin seine »Bürger von Calais« begann, Hilde?
brand in Berlin den »nackten Mann« (jetzt in der Nationalgalerie) aus?
gestellt hat. Vor der plastischen Gruppe des Franzosen drängt sich Kuhn der
Vergleich mit einer Kalvariendarstellung des Mittelalters auf. Vor Hilde?
brands Statue sagt man: Thorwaldsen?Klassizismus, um den Eindruck
schlagwortartig zu komprimieren.
Ein anderer Fall ist noch möglich: Puvis de Chavannes, — antike Welt,
vom gotischen Geist durchdrungen. Arkadien, Ölbaum und Zypresse, nackte
Jünglinge im Ebenmaß des olympischen Kämpfers, ruhend unter ewig
sonnigem Himmel. Die Isle de France: ein mittelalterliches Hellas. Was aber
an diesen Fresken auffällt: daß sie wohl die Horizontale noch halten, aber
nur, um sie durch eine stärkere Vertikale zu zerbrechen. Es ist wie an früh?
gotischen Kirchen: noch ist hier Kampf zwischen beiden Tendenzen (während
in der späteren Gotik die Horizontale nicht mehr existiert), aber zu keinem
anderen Zweck als um den Sieg des Himmelaufstrebenden zu erweisen.
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schlossen, bemerken sie nicht, wie konträr sie einander sind.
Seht Van Gogh: seht den Ringer mit Gott, mit der Welt. Religiös ebenso mit
jedem Pinselstrich wie mit jeder Lebensäußerung. Von jenen Plastikern, die
auf den Kathedralen von Moissac und Bamberg einen Fanatismus der Gottes?
liebe bekundet haben, der jede irdische Form verzerrt und maßlos steigert,
trennt ihn nichts. Nicht fremd blieben ihm die Verzückungen mittelalterlicher
Ekstatiker, und in einem seiner späten Briefe bekennt er: »Kurz und gut,
ich glaube nicht, daß meine Geistesstörung von der Art des Verfolgungs?
Wahnsinns ist, denn im Zustande der Verzückung machen sich meine Emp?
findungen weit eher über die Ewigkeit und über das jenseitige Leben be?
sorgt.« Seine Briefe sind die einzigen religiösen Dokumente des 19. Jahr?
hunderts, die sich an Echtheit und Inbrunst mit den heiligen Verlautbarungen
religiös Ergriffener früherer Epochen messen können. Der Dogmatismus
Gläubig?Gebundener ist bei ihm Pantheismus geworden: aber das Ich hat
gleiche Substanz.
Anders der frühe Manet; jener Manet, der die Olympia und das dejeuner
sur l’herbe gemalt hat. Hier ordnet sich eine Persönlichkeit restlos in die
Welt ein, bildet um Welt und eigenes Ich eine einzige Harmonie. Die Einheit,
das Ebenmaß, die Norm, die Realität sind alles. Wo findet er sie? Indem er
die Antike begreift: in der Natur. So wird Natur alles. So wird die Gestalt
der Natur alles.
Um noch ein Beispiel aus der Plastik anzuführen: Rodin und Hildebrand.
Alfred Kuhn hat neuerdings in seinem ausgezeichneten Buche »Die neuere
Plastik seit 1800« (Delphin?Verlag München 1921) darauf hingewiesen, daß
im gleichen Jahre (1884), als Rodin seine »Bürger von Calais« begann, Hilde?
brand in Berlin den »nackten Mann« (jetzt in der Nationalgalerie) aus?
gestellt hat. Vor der plastischen Gruppe des Franzosen drängt sich Kuhn der
Vergleich mit einer Kalvariendarstellung des Mittelalters auf. Vor Hilde?
brands Statue sagt man: Thorwaldsen?Klassizismus, um den Eindruck
schlagwortartig zu komprimieren.
Ein anderer Fall ist noch möglich: Puvis de Chavannes, — antike Welt,
vom gotischen Geist durchdrungen. Arkadien, Ölbaum und Zypresse, nackte
Jünglinge im Ebenmaß des olympischen Kämpfers, ruhend unter ewig
sonnigem Himmel. Die Isle de France: ein mittelalterliches Hellas. Was aber
an diesen Fresken auffällt: daß sie wohl die Horizontale noch halten, aber
nur, um sie durch eine stärkere Vertikale zu zerbrechen. Es ist wie an früh?
gotischen Kirchen: noch ist hier Kampf zwischen beiden Tendenzen (während
in der späteren Gotik die Horizontale nicht mehr existiert), aber zu keinem
anderen Zweck als um den Sieg des Himmelaufstrebenden zu erweisen.
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