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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 3.1921/​1922

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Bagier, Guido: Realisation der Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.44743#0328

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losgelöste überzeitliche Hingabe an ganz große Rhythmen und Zusammen?
hänge. Die Realisation des Werkes löst sich vom Verfasser; er gibt der
Kugel Form und Anstoß, die weitere Bahn wird von überpersönlichen An?
lässen und Kräften bestimmt. Die rein geistige Wirklichkeit geht in die see?
lische Wirklichkeit der Jahrzehnte, ja Jahrhunderte über; der »große Stil«,
der allein hier in Frage kommt, setzt sich in der Musik durch nicht mit,
sondern gegen die Zeit. Die bildenden Künste, an Materie und Auffassung
der Wirklichkeit gebunden, die Dichtkunst, der jeweiligen Ausdrucksform
der Sprache untertan, bleiben weit zurück und müssen der Musik den Flug
ins All überlassen, während sie selbst auf irdischen Geleisen ihren Fort?
schritt suchen. Gewiß spielt in der Tonkunst der Stand der theoretischen
Forschung und der instrumentalen Möglichkeiten eine Rolle, — das Genie
ist berechtigt, jene zu überflügeln und neue Gesetze intuitiv aufzustellen,
neue Verwirklichungen zu ersinnen. Die Distance zwischen historischer
Einstellung und gegenwärtiger Leistung ist in der Musik denkbar groß. Der
monumentale Stil musikalischer Werke entzieht sich rein geistiger Analyse
und greift über in das Gebiet intuitiver Erfahrung.
Es ist verständlich, daß diese Erfahrung bei einer auf andere Erfassung der
Wirklichkeit gerichteten Kultur nur ganz vereinzelt anzutreffen ist. Die
Menge, gewöhnt an das »Was bedeutet das Kunstwerk?« ermangelt jeglichen
Organs seelische Tatsachen zu erfassen; Worte, wie »Phantasie«, »Einfüh?
lung«, »Abstraktion«, »Beharrung« werden konstruktiv ästhetisch gewertet.
Die Überwältigung durch die Masse ist offenbar. Die Produktion der
Musik richtete sich nach dieser Nachfrage: Die gesamte Literatur der letzten
Jahrzehnte ist auf den Zuhörer und Ausführenden, auf Eindruck und
Wiedergabe zugeschnitten. So gleicht diese Kunst einer Pflanze, deren
Blätter als Früchte genommen werden, während man die Blüten vorzeitig
vernichtet, auf daß ja keine Frucht entstehe. Nur durch Zufall kann eine
Individualität vor jener schmerzhaften Prozedur bewahrt werden.
Die Realisation der Musik muß vom Künstler ausgehen; sie darf nicht,wie
bisher, von Zeit und Publikum bestimmt werden, deren Instinkte schlecht
und jedem gefällig sind. Die Gefühle dürfen nicht führen, die Passion an
sich muß herrschen, jegliche »Wirkung« außer Acht lassend. Der Künstler
denke allein an sein Werk, ohne beeinflussen zu wollen oder beeinflußt zu
sein. Als Forderung an die Wirklichkeit, als Befehl und Wille trete er auf, —
dann kann auch in der Tonkunst jene Gegen?Renaissance einsetzen, die
mißverstandene Klassizität und Romantik beseitigt, wahrhafte Gegen?
wart unbewußter, das heißt wahrhaft schöpferischer Art an die Stelle er?
klügelter historischer Verlebendigung und Wiedererweckung setzt!


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