MITTEILUNGEN DES BUNDES DERKÜNSTE IM
RHEINISCH ? WESTFÄLISCHEN INDUSTRIEGEBIET
1. JAHRGANG NR. 7
APRIL 1922
SCHRIFTLEITUNG: DR. RICHART REICHE, BARMEN RUHMESHALLE, FERNSPRECHER NR. 1185
VORTRAGSWESEN UND BUND DER KÜNSTE
lies ideale Wollen kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß hierzulande wirtschaftliche
Ylnteressen, Ziele, Notwendigkeiten breit im Vordergründe stehen, während die Instanz
zen des künstlerischen Lebens in die Ecke gedrängt ein bescheidenes Dasein fristen. Am besten
halten sich noch Bühnen und Konzertinstitute, da bei dem, was sie bieten, das Erholungs*
und Zerstreuungsbedürfnis des geplagten Arbeitsmenschen dieser Zone am ehesten auf seine
Rechnung kommt. Mit der Lebensfähigkeit der literarischen Vereine steht es fast überall be*
■denklich. Viele von ihnen sind im Begriff, aus Mangel an Publikum für ihre Veranstaltungen
einzugehen, oder, was dasselbe bedeutet, die Pflege ernster Kunst aufzugeben und dafür ins
offene Meer der unterhaltenden Literatur hinauszusteuern. Aus Mangel an Publikum. Wie
liegen denn die Verhältnisse? Wenn man von einem an verantwortlicher Stelle im Wirtschafts«
leben stehendem Manne verlangt, nach der angestrengten Arbeit eines Zehn* bis Zwölfstunden*
tags am Abend die problematische Lyrik eines Neutöners oder die wissenschaftlichen Dar*
legungen eines Literaturhistorikers mit Aufmerksamkeit entgegenzunehmen, so ist daß eine
anmaßende Zumutung, zumal es sich hier um das Gegenteil von Zerstreuung und Erholung
handelt. In ernsteren künstlerischen Veranstaltungen, namentlich den literarischen, trifft man
die führenden Persönlichkeiten unseres Wirtschaftslebens eigentlich nur bei den wenigen
Gelegenheiten, die ein gesellschaftliches Ereignis darstellen, bei dem man, ob auch ungern,
acte de presence zu machen hat. Ein weiterer Teil des Publikums fällt für das literarische
Leben aus anderen Gründen aus. Es sind die Menschen mit starken geistigen Bedürfnissen
und allenfalls auch der Zeit (oder, wie beim Lehrerstand z. B. der Pflicht) ihnen nachzugehen,
aber mit leider recht geringer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Man muß sich klar machen,
daß es heute sehr viele geistig und künstlerisch interessierte Menschen gibt, die auf den Be*
such literarischer Veranstaltungen verzichten müssen, weil die mit diesen verbundenen direk*
ten und indirekten Ausgaben ihr Budget übersteigen, das durch Kleider, Schuhe, Essen,Trinken
und andere nach Luthers Katechismus zum täglichen Brot gehörende Dinge voll in An*
spruch genommen ist. Dann ist da der große Haufe der »Gebildeten«: Mittelstand, Bürger,
»bessere« Kreise. Sie verlangen, wo ihre Bedürfnisse über Marcell Salzer und Plaut überhaupt
hinausgehen, eine Literatur »fürs deutsche Haus«, die von den literarischen Vereinen ihrer*
seits ungern und nur mit schlechtem Gewissen ins Programm aufgenommen und, wenn sie
dann geboten wird, schließlich trotzdem nur halbvolle Säle erzielt. Daß außerdem noch sehr,
sehr viele da sind, die geistigen Hunger genug haben, aber vorläufig aus Mangel an Aus*
bildung und Übung noch nicht die Organe, um die gebotene »höhere« Kost aufzunehmen
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RHEINISCH ? WESTFÄLISCHEN INDUSTRIEGEBIET
1. JAHRGANG NR. 7
APRIL 1922
SCHRIFTLEITUNG: DR. RICHART REICHE, BARMEN RUHMESHALLE, FERNSPRECHER NR. 1185
VORTRAGSWESEN UND BUND DER KÜNSTE
lies ideale Wollen kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß hierzulande wirtschaftliche
Ylnteressen, Ziele, Notwendigkeiten breit im Vordergründe stehen, während die Instanz
zen des künstlerischen Lebens in die Ecke gedrängt ein bescheidenes Dasein fristen. Am besten
halten sich noch Bühnen und Konzertinstitute, da bei dem, was sie bieten, das Erholungs*
und Zerstreuungsbedürfnis des geplagten Arbeitsmenschen dieser Zone am ehesten auf seine
Rechnung kommt. Mit der Lebensfähigkeit der literarischen Vereine steht es fast überall be*
■denklich. Viele von ihnen sind im Begriff, aus Mangel an Publikum für ihre Veranstaltungen
einzugehen, oder, was dasselbe bedeutet, die Pflege ernster Kunst aufzugeben und dafür ins
offene Meer der unterhaltenden Literatur hinauszusteuern. Aus Mangel an Publikum. Wie
liegen denn die Verhältnisse? Wenn man von einem an verantwortlicher Stelle im Wirtschafts«
leben stehendem Manne verlangt, nach der angestrengten Arbeit eines Zehn* bis Zwölfstunden*
tags am Abend die problematische Lyrik eines Neutöners oder die wissenschaftlichen Dar*
legungen eines Literaturhistorikers mit Aufmerksamkeit entgegenzunehmen, so ist daß eine
anmaßende Zumutung, zumal es sich hier um das Gegenteil von Zerstreuung und Erholung
handelt. In ernsteren künstlerischen Veranstaltungen, namentlich den literarischen, trifft man
die führenden Persönlichkeiten unseres Wirtschaftslebens eigentlich nur bei den wenigen
Gelegenheiten, die ein gesellschaftliches Ereignis darstellen, bei dem man, ob auch ungern,
acte de presence zu machen hat. Ein weiterer Teil des Publikums fällt für das literarische
Leben aus anderen Gründen aus. Es sind die Menschen mit starken geistigen Bedürfnissen
und allenfalls auch der Zeit (oder, wie beim Lehrerstand z. B. der Pflicht) ihnen nachzugehen,
aber mit leider recht geringer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Man muß sich klar machen,
daß es heute sehr viele geistig und künstlerisch interessierte Menschen gibt, die auf den Be*
such literarischer Veranstaltungen verzichten müssen, weil die mit diesen verbundenen direk*
ten und indirekten Ausgaben ihr Budget übersteigen, das durch Kleider, Schuhe, Essen,Trinken
und andere nach Luthers Katechismus zum täglichen Brot gehörende Dinge voll in An*
spruch genommen ist. Dann ist da der große Haufe der »Gebildeten«: Mittelstand, Bürger,
»bessere« Kreise. Sie verlangen, wo ihre Bedürfnisse über Marcell Salzer und Plaut überhaupt
hinausgehen, eine Literatur »fürs deutsche Haus«, die von den literarischen Vereinen ihrer*
seits ungern und nur mit schlechtem Gewissen ins Programm aufgenommen und, wenn sie
dann geboten wird, schließlich trotzdem nur halbvolle Säle erzielt. Daß außerdem noch sehr,
sehr viele da sind, die geistigen Hunger genug haben, aber vorläufig aus Mangel an Aus*
bildung und Übung noch nicht die Organe, um die gebotene »höhere« Kost aufzunehmen
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