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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 3.1921/​1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.44743#0434

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Brandes erzählt, daß er, als man ihm einst in
Budapest den General Görgei vorstellte, naiv
fragte: »Aber das ist wohl nicht der von 1848?«
Doch es war derselbe! Freilich war es nicht
mehr der junge, revolutionäre Offizier, der seine
Soldaten zum Angriff gegen die Gewalt führte,
nicht mehr der Diktator Ungarns, sondern ein
Mann von mehr als reifem Alter, mit völlig weh
ßem Haar und Bart, aber einem ganz aufrechten
Körper, wie eine brennende Kerze. Görgei zählte
damals 83 Jahre, schien aber erst in den fünfzig

dem wir bewundernswerte Reiseaufzeichnungen
und italienische Kunstberichte, aus dem Jahre
1870 und von früher kennen, derselbe, der im
Jahre 1921 in Deutschland (bei Erich Reiß,
Berlin) ein umfangreiches Werk über Goethe,
eine erstaunliche Arbeit überVoltaire, drei Bände
über Julius Caesar erscheinen läßt, ganz zu
schweigen von den kühnen und wunderbar
menschlichen Aufsätzen, die er mutig, während
des neuen siebenjährigen Kriegs veröffentlichte,
welcher ohne sichtbares Ende seit 1914 währt,

zu sein. Und mit der Meister;
schäft, mit der allein Brandes seine
Begegnungen mit Menschen aus
allen Gesellschaftsschichten und
allen Altersstufen erzählen kann,
entwirft er uns das Bild des Gene;
rals. Diese schönen Seiten erwa;
chen heute in meinem Gedächtnis
und eine Unmenge von Fragen
erheben sich: Brandes tritt in sein
einundachtzigstes Jahr, und doch
ist keiner unter uns so produktiv,
hat keiner ein so feines Ohr für
alle Erscheinungen des künstle;
rischen, politischen, und literari;
sehen Lebens, wie er. Wie sollte
man da nicht von einer unendli;
chen Reihe von Fragen überfallen
werden? Ist dieser Brandes wirk;

W.DIETZE E.M.ENGERT


— erst zu schweigen von den
Briefen ohne Zahl, mit denen er
den Geist und die Seele seiner
in der ganzen Welt verstreuten
Freunde nährt?
Ja, es ist wirklich ein und derselbe!
Ich habe sein Bildnis vor Augen,
seinen Faunskopf, und die dünne
Schrift eines Mannes, der viel
schreibt. Es ist er, der während des
Krieges von einer Reihe seiner
besten französischenFreunde ver;
leugnet wurde,selbst vonClemen;
ceau, welcher einen ebenso Auf;
sehen erregenden wie zynischen
Aufsatz schrieb: »Leb wohl.Bran;
des!«, weil dieser sich weigerte,
seinen begeisterten Beitrag zur
Epopee des Zeitalters der Spitz;

lieh derselbe, der persönlich John;Stuart Mill ge; buben zu liefern, wie Michelet es genannt
kannt und bewundert hat, derselbe, der Ernst Re; hätte! Er, der wie kein anderer die vierzehn

nan kannte und N ietzsche entdeckte ? Ist es er, der
mit der ganzen französischen Plejade von Schrift;
steilem, deren Haupt Flaubert war, in Brief;
wechsel stand, derselbe Brandes, der als erster die
größtenSchriftstellerderfünfletztenDekadenam
Beginn ihrer Laufbahn begrüßte — unter anderen
Anatole France, Gerhart Hauptmann, Gabriele
d’Annunzio, Maxim Gorki, Arthur Schnitzler,
Jacob Wassermann, bis zu Verhaeren und dem
wunderbaren, chinesischen Weisen unserer Tage
— Ku;Hung Ming? Ist er es, der die politischen
Anfänge oder Laufbahn Clemenceaus, Briands,

guten Vorsätze Wilsons verspottet hat, mit denen
der Weg gepflastert war, der uns in die Hölle
führte, in der wir jetzt verschmachten, eine Hal;
tung, die ihm in Amerika die ärgsten Beschimp;
fungen eintrug! Er, der Bürger eines kleinen,
neutralen Landes, der Europäer, der wegen seiner
edlen und menschlichen Haltung von so vielen
gelehrten Gesellschaften der Krieg führenden
Staaten ausgeschlossen wurde, er, endlich, der
alle europäischen Sprachen kann, der dänisch
wie deutsch und deutsch wie französisch schreibt,
der über Lord Beaconsfield eine Studie von

Jaures’, Bebels verzeichnet hat? Also all jener,
die die Politik und das Schicksal der Welt be;

großemWert, und über Shakespeare ein meister;
haftes Buch veröffentlicht, vielleicht das beste,

stimmten und bestimmen, Namen, die für uns
einen Teil der Legende vergangener Zeiten,
versunkener Generationen bilden und die sich
in Brandes, wie ein noch Lebendes verkörpern?
Und ist es endlich derselbe Georg Brandes, von

das seit fünfzig Jahren geschrieben wurde! . . .
Ich habe das Bildnis dieses Mannes mit dem
Faunskopf vor Augen, der alles las, alles sah,
alles kannte, der alles notierte bis er selbst die
Verkörperung einer Kultur, der Geschichte

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