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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 3.1921/​1922

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eines Jahrhunderts, einer Weltbibliothek
wurde ...
* *
Es handelt sich hier nicht darum, ein literarisches
oder philosophisches Porträt von Georg Bran?
des zu geben. D e r M e n s c h ist es, den wir h eute
feiern, und letzten Endes ist es dieser Mensch
allein, der uns interessiert, wenn wir bei der
Lektüre eines Buches außer dem Talent auch
einen Menschen darin finden. »Mit dem Munde,
wie auf dem Papier«, sagt Montaigne vom Stil,
den er wünschte. Vom Gesichtspunkte der Ge?
fühle und der Humanität aus,
könnte man diese Maxime Monas
taignes auf den Menschen Bran?
des anwenden, wie er sich aus
seinen Werken löst. Um so viel
über Bücher, die er gelesen, und
über Menschen, die er kennen
gelernt hat schreiben zu können,
bedurfte er, außer dem Talent
und außer den Einfällen, der
Güte, er mußte ganz und gar frei
von Eigensucht sein und zuzu?
hören verstehen.
Es ist viel schwerer, ein Buch
zu lesen, als ein Bild anzusehen,
oder eine Symphonie anzuhören. LEONH. FRANK
Ein Bild wird gezeigt, eine Sym?
phonie gespielt, aber ein langes Buch muß per?
sönlich gelesen werden. Ein gutes Buch verlangt
es, daß man ihm ganze Tage opfert, daß man sich
darauf konzentriert, daß man fähig sei, seine
eigene Haut abzustreifen, um die Menschen, die
in ihm beschrieben werden, zu verstehen und in
sie einzudringen. Keiner war ein idealerer Leser
als Brandes. Keiner seit Sainte Beuve und Spencer
hat so viel gelesen wie unser Achtzigjähriger,
keiner hat so sehr, wie der Verfasser von »Ges
stalten und Gedanken« die Schriftsteller und
ihre, in ihren Büchern beschriebenen Gefährten,
geliebt. Aber Brandes versteht sich nicht nur
aufs Lesen, sondern auch darauf zu horchen und
zu hören. Liest man seine »Porträts«, die alle
auf persönliche Eindrücke zurückgehen und
Erinnerungen zur Grundlage haben, die er
während seines langen und reichen Lebens auf;
stapelte, so bemerkt man, daß kein einziges für
seine Freunde oder Zufallsbekannten charakte?
ristische Wort, ihm entging. Man verkenne
nicht das Verdienst des Horchen<■ Könnens!

Wenn Heinrich Heine mit Bewunderung von
Georges Sand, dieser wunderbaren Frau des
neunzehnten Jahrhunderts, sprach, so fand er
kein schmeichelhafteres Wort für sie, als zu
sagen, sie wäre »eine feine Horcherin«. Wer
wäre eines analogen Cobes würdiger als der
Mann, mit dem sich diese Zeilen beschäftigen ?
Ja, Georg Brandes versteht sich aufs Horchen,
und er hört die Menschen und seine Zeit! Er
leiht jedem Geräusch sein Ohr, sei’s nun das
der Kanone, das den Krieg verkündet, oder der
ozeanischen Stimme Jaures, der den Frieden for?
dert. Er horcht und nimmt Stel?
lung. Ist er infolge der Tatsache,
daß er es nie verabsäumte, den
Ländern der Entente zu sagen,
was er über ihre Politik und ihr
Verhalten gegen die Kolonial?
Völker und während der letzten
Jahre, gegen Deutschland,dachte,
ist er deswegen germanophil, ein
Freund Deutschlands, ein Feind
der Verbündeten ? Auf solche Art
die hochherzige Haltung von
Brandes ins Auge zu fassen, hieße
entweder, sie völlig verkennen,
oder sie wissentlich verleumden.
E. M. ENGERT Brandes ist vor allem und in erster
Linie ein Mann, der international
und menschlich denkt, ein Mann, der Polen ver?
teidigt, wenn es unter dem Joch des russisch?
deutschen Despotismus leidet, aber Polen an?
klagt, wenn es, kaum befreit, die deutschen und
jüdischen Minoritäten seines eigenen Landes
unterdrückt und verfolgt. Brandes wünscht um
nichts weniger die Wohlfahrt des deutschen, als
die des französischen, von seinen Führern so
sehr verratenen und getäuschten Volks: denn
die Kritik, der er gewisse Regierungen unter?
zieht, wird ihm nur von der reinsten, aller zoo?
logischen Leidenschaft freien Menschlichkeit,
diktiert, dieser zoologischen Leidenschaft, die
unfähig ist Ehrenmännern andere Gefühle als
die irgendeiner »Philie« oder »Phobie« zu ver?
leihen. Die Seele Brandes ist zu shakespearisch,
zu »ozeanisch« (um nochmals ein Wort Walt
Whitmans zu gebrauchen), als daß man sie
anders fassen könnte. In seinen Augen wird die
Welt, wie er es jüngst in Kopenhagen anläßlich
der Fünfzigfahrfeier seines Professorats aus?
sprach, von zwei Arten von Leuten regiert: von


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