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644 Czolbe: Grenzen und Ursprung der menschlichen Erkenntniss.
ein künftiges Leben zu erwarten haben.« Die Zahl der Armen,
der unverschuldet körperlich und geistig Leidenden, der Gebrech-
lichen und von Missgeschicken Verfolgten ist gewiss nicht gering
und darf entschieden als grösser angeschlagen werden, als die Zahl
der Glücklichen. Was soll dem Menschen, der sich nicht helfen
kann und dem andere nicht helfen wollen, die Gewissheit, dass es
keine göttliche Hülfe für ihn giebt? Weckt eine solche Gewissheit
das Selbstvertrauen? Führt sie nicht eher zum Selbstmorde, wenn
er weiss, dass das Jammerleben für ihn damit für immer ein Ende
nimmt? Weckt diese Gewissheit die Menschenliebe? Wer weiss,
dass es nach diesem Leben zu Ende geht, der wird es so lange und
so viel als möglich zu geniessen suchen, der sucht Alles für sich
und nichts für den Andern zu verwenden, da er ja kein Leben
mehr hinter sich annimmt. Die Armen werden, weil sie nur den
diesseitigen Genuss haben, sich ihn überall möglichst mit allen Mit-
teln zu verschaffen suchen. Der dem Menschen angeborene Grund-
trieb der Selbsterhaltung wird auch der Grundtrieb der Leiden-
schaften als Selbstsucht werden. Die Selbstsucht aber, die nur für
Genuss und Glück dieser Welt zu arbeiten hat, ist der Menschen-
liebe diametral entgegengesetzt. Wer wird sich für einen Andern
aufopfern wollen, der mit diesem Leben sein ganzes Leben verliert ?
Der Wegfall des übernatürlichen Himmels soll der »kräftigste
Sporn« zur Verwirklichung des Himmels auf der Erde sein. Wir
zweifeln sehr daran. Wenn die Ueberzeugung des Herrn Verf. die
allgemeine wäre, so würden sich die Menschen, da weitaus die
wenigsten sind, was sie sein sollen, statt des Himmels eine uner-
trägliche Hölle auf der Erde bereiten. Das Hobbes’sche bellum
omnium contra omnes würde entstehen, da Jeder nur einen Himmel,
den diesseitigen Himmel und ohne Angriff auf den andern auch
diesen nicht haben könnte. Wir glauben allerdings, dass Natura-
listen, die, wie der Herr Verf., eine reine Sittenlehre aufstellen,
»besser sind, als die Consequenzen ihrer Lehre«, und dass nicht,
wie der Herr Verf. bescheiden beifügt, das »Umgekehrte der Fall«
ist. Aber die Consequenzen eines solchen Naturalismus sind ge-
wiss bei der Mehrzahl der Menschen die allerschlimmsten.
Doch man soll eine Lehre nicht nach ihren Folgen, sondern
nach der Folgerichtigkeit ihrer Sätze beurtheilen. Sehen wir also
zu, wie es mit dieser beschaffen ist.
Der Herr Verf. hält vom Standpunkt des Naturalismus »unsere
Handlungen« für »durchaus naturnothwendig«, »nicht für ein Pro-
dukt der vermeintlichen (sic) absoluten Willensfreiheit oder Wahl-
freiheit zwischen Gut und Böse« (S. 30). Damit soll nicht gesagt
werden, dass wir »ein ohnmächtiger Spielball äusserer Einflüsse
und zufälliger Zustände unseres Körpers sind.« Der Naturalismus
»behauptet vielmehr, dass die dem Menschen theils angeborene,
theils anerzogene, zum festen Abschluss gekommene Richtung sei-
nes Strebens nach dem Guten oder nach dem Schlechten d. h. sein
 
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