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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 44.1928-1929

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Roessler, Arthur: Sehen, Schauen und Anschauung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14159#0019

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fassenden Anschauung, vielmehr erwirbt es
diese Fähigkeit nur allmählich durch geistige
Bildung, Entwicklung und Läuterung der dem
Menschen naturgemäß innewohnenden, ethi-
schen Kraft. Allerdings kommt die Fähigkeit
der Anschauung auch als seltene, eingeborene
Kraft vor, und zwar in schöpferisch begabten
Menschen, den Dichtern beispielsweise, die der
alte sinnreiche Sprachgebrauch ja als Seher be-
zeichnet, und den bildlich gestaltenden Künst-
lern, Malern, Graphikern und Plastikern.
Der bildenden Künstler Tun ist daher im eigent-
lichen Sinn, mehr oder minder lust- und leid-
volles, unablässig angestrengtes Bemühen, das
Bewußtsein der Menschen von der unendlichen
Vielfältigkeit der dinglichen Weltsichtbarkeit
zu klären, zu schärfen, zu bereichern, zu ver-
tiefen. „Durch das Auge spricht die Gottheit,
durch das Ohr der Mensch zum Menschen",
sagte Oken, wobei er vielleicht an die Wach-
träume des Menschen dachte, in denen die Gott-
heit sich ihm in „Gesichten offenbart". Mag
nun die Gottheit auch nur ein Traum des
Menschen sein, wie dies Materialisten behaupten,
bleibt es doch jedenfalls eine bedeutungsvolle,
ernsten Bedenkens würdige Tatsache, daß ge-
rade nur der Augensinn träumen kann, während
die niederen Sinne nicht in die Traumwelt ein-
zudringen vermögen. Allerdings sind dieTräume
gegenwärtig in Mißachtung geraten, fast ebenso
wie die Kunst. Die sich „aufgeklärt" dünkenden
Menschen glauben nicht an Träume; darum
mißtrauen sie auch den Künstlern, die sich er-
kühnen, irgendwelche Sichtbarkeiten der irdi-
schen und himmlischen V^elt anders darzu-
stellen, als Huber und Mayer sie am „hellichten"
Tag zu sehen wähnen. Sie mißtrauen dem noch
nie zuvor Gesehenen, wenn es ihnen in der Form
eines Kunstwerkes begegnet, weil sie noch nicht
oder nicht mehr wissen, daß allein der Gesichts-
sinn von allen menschlichen Sinnen überhaupt
dazu imstande ist, die Schwelle der materiellen

Wirklichkeit zu überschreiten und Illusionen
zu erleben, die um vieles wirklicher sind als
jede grobe Handgreiflichkeit.
Vom Menschenauge Erschautes, gleichviel ob
in der irdischen Natur oder im Traum, in der
Phantasie erschaut, ist die tiefste und reichste
Nährquelle des Gemütes, der Seele. Jeder nicht
blindeMenschistganz angefüllt von Erschautem;
die frühesten Eindrücke vom Leben, deren er
sich erinnern kann, werden stets Eindrücke
bildhafter Art sein. Denn im Licht, dem ge-
heimnisvollsten und wichtigsten Urelement un-
seres Werdens und Seins, lebt der Mensch. Aus
den im menschlichen Sehorgan widerklingenden
Schwingungen der Lichtstrahlen und ihren
psycho-physischen Wirkungen wird das Vor-
stellungs- und Gefühlsleben des Menschen ge-
staltet. Immer ist das Primäre im Auge des
Menschen die sinnlich-stimmungshafte Erin-
nerung an die im Licht sichtbar gewordene
Erscheinung der Dinglichkeit. Das Verhältnis
des Menschen zur Natur ist daher im allge-
meinen eine Anschauungsbeziehung. Durch
des bildenden Künstlers besondere Tätigkeit,
die zugleich Ausdrucksbeziehung ist, erfährt
des Menschen Verhältnis zur Natur eine un-
gemeine, man darf wohl sagen: die höchste Stei-
gerung. Und auch das wird man sagen dürfen:
zur K_unst wird der echte Künstler durch kei-
nerlei verstandesmäßige Erwägung, durch keine
Konvention,durchkeineAnleitung.keineirgend-
wie geartete äußere Nötigung geführt, sondern
einzig und allein durch seinen, aus tiefsten
Wesensgründen unaufhaltsam aufquellenden
Drang und Trieb zur Weltanschauungsgestal-
tung. Wo dieser Drang unverkümmert vor-
handen ist, da bringt er farbige und formaJe
Gestaltungen hervor, die, frei von ästhetischer
Schaumschlägerei, frei von Fingervirtuosität,
frei von akademischem Formelkram, frei von
finessenreicher Ateliermache, Werke echter

Kunst sind. Arthur Rocssler

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