Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 44.1928-1929

DOI article:
Wolf, Georg Jacob: George Minne
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14159#0286

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
GEORGE MINNE

Als der Belgier George Minne um 1900 als in der Secession die Gestalt eines schmächtigen
Dreiunddreißigjähriger seine Plastiken auf Knaben aus, der den Inhalt eines W einsacks auf
deutschen Ausstellungen zuerst zeigte, eröffnete den Boden entleert. Die Figur war seltsam
ermit jenerstarken Anteilnahme, diedieOlfent- mager und knochig, bar jeder stärkeren Sinn-
lichkeit damals noch für Kunstdinge besaß, lichkeit und schien der damaligen, an das Ba-
eine Kette von temperamentvollen Diskussio- rocke gewöhnten Zeit nur der konstruktive
nen. Man glaubte in den Arbeiten dieses Soh- Ausdruck einer beinahe architektonischen
nes eines Genter Architekten eine erste Ge- Funktion zu sein.

staltung jener Neugotik zu sehen, die in jener Fast dreißig Jahre sind seitdem vergangen.
Zeit vor allen den Dichtern als neues Kunst- Längst hat man erkannt, wie weit eine solche
ideal vorschwebte. Minne stellte damals zuerst Bildhauerei von der ekstatischen Transzendenz

der Gotik entfernt ist, und wie jene
Frühwerke eher den Stempel des
Jugendstils auf der Stirn tragen.
Minne ist seinem Wesen jedoch nicht
untreu geworden. Man kann noch
beute eine klare Entwicklungslinie
verfolgen und ein Uberblick seines
Werkes bietet den Gesamteindruck
von einem kühlen, zarten, nordischen
Klassizismus, nicht unverwandt den
ein wenig kraftvolleren Schöpfungen
Adolf v. Hildebrands. Die schlanken
stehenden und knienden Jünglings-
gestalten, häufig mit verschränkten
oder gekreuzt erhobenen Armen, die
nach vorn gelehnte Figur eines Red-
ners, der verschmolzen in der glatten
Flächenformung sich auf ein amboß-
artiges Pult stützt, die Frauen, die
kantig mit scharfem Schnitt aus dem
Stein herausgeschält sind und ihren
geneigten Kopf gegen den Handteller
lehnen, sie alle sind das Werk eines
Menschen von zart beseelter Intensi-
tät, der unbekümmert seinen eigenen
Weggegangen ist. Dieser Weg scheint
weniger das zukunftsstarke Drängen
eines neuen Frühlings zu bedeuten, als
weit mehr die sl i 11 ergebene leiseTrauer
einer schönen, herbstlichen Endphase.
Plastiken wie der „David" oder „Die
Badende" enthüllen die ganze pflan-
zenhafte Anmut George Minnes. Sie
atmen bei aller deutlichen Gebärden-
sprache eine feine, gedämpfte Ruhe
aus. Sie sind ganz schlicht und zeigen
GEORGE MINNE. KNIENDER in ihrer Klarheit die erfüllte Sehnsucht

Mit Genehmigung der Galerie Flechtheim eines zarten, subtilen Menschen. W.

256
 
Annotationen