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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 44.1928-1929

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Steenhoff, W.: "Was ich suche, ist für jeden zu finden", [2]: aus den Briefen Vincent van Goghs an seinen Bruder
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einem verbissenen Kampf um Selbsterhaltung.
Alle physischen Qualen konnten den Schöp-
fungsdrang nicht hemmen; der Künstler blieb
tatkräftig, bis der Körper erlag. Wohl sah er
die äußeren Erscheinungen nun anders, als
Offenbarungen verborgener Lebensmächte; er
sah die Gestalten der Bäume als ein sich dem
Boden entringendes Wachstum, er sah die
Felsen in ihrer Auftürmung aufeinanderschla-
gen und Sonne, Mond und Sterne aus zitterndem
Himmel hervorquellen; die Zypressen bohren
sich bebend in die Luft; die glühenden Bahnen
der Acker leuchten in phosphoreszierendem
Scheine gegen die düstre Wand eines violett-
blauen Himmels und geben uns das Empfinden,
als wenn man, über diese sich wölbende Fläche
dahinschreitend, von der Erde hinwegfallen
müsse. „Je ne me suis pas gene pour chercher
ä exprimer de la tristesse, de la solitude extreme,
peignant des immenses etendues de bles sous
des ciels troubles", schrieb er seinem Bruder
in dieser Zeil; Worte wie ein greller End-
schrei, in Todesahnung ausgestoßen.
Psycho-Analytiker, die, außerhalb des Künstler-
lebens stehend, ihre Theorien aufbauen, haben
besonders in diesen späteren Arbeiten Zeichen
des Wahnsinns zu entdecken gemeint, ohne
zu erfassen, daß in jedem mächtigen Kunst-
werk a priori eine Geisteswirksamkeit anwesend
ist, die in den Augen derer, die nur über die
Tiefebene des Lebens kriechen, als Y\ ahnsinn
erscheint.

„Apres lout ce sont nos tableaux qui doivent
parier pour nous", sagt Vincent selbst. Und
darum sollten Psychiater erst einmal ein Kunst-
werk ergründen lernen, ehe sie zu einem sach-
lichen Analysieren des übersinnlichen Organis-
mus übergehen. Sie würden dann entdecken,
daß die künstlerischen Äußerungen Vincents
keinesfalls typische Symplone von Geistes-
störung zeigen, die sich ollenbaren würde
durch Abwesenheit der Kontinuität des Ge-
dankenganges und durch einen unterbrochenen
geistigen Zusammenhang, zu vergleichen mit
einer Kette, deren Glieder sich untereinander
verwirrt haben. Das Gegenteil ist der Fall:
gerade aus manchem Gemälde dieser letzten
Zeit spricht eine große Sicherheit in der Hand-
habung der Komposition, eine feste, auf ein
bestimmtes Ziel gerichtete Entschlossenheit.
In Auvers hat van Gogh Landschaften gemall,
die noch stärker durchgeführt sind als die
früheren; denn der Drang, tiefer auf die Dinge

einzugehen, war unbefriedigbar in ihm. In den
dort entstandenen Blumenwiesen, bei denen es
für den Betrachter das Sicherste ist, sich an
allgemeine Planeinteilungen zu halten, um der
Verwirrung des Totaleindrucks zu entgehen,
wollte er das Gras so wiedergeben, wie er es
wachsen sah, vollkommen; und er malte es
in einem nahezu verblüffenden Akzentuieren
der unzähligen Halme, Strich neben Strich,
aber in einer gemeinsamen, emporstrebenden
Bewegung, wobei er sozusagen das Ziel hatte,
der planmäßig-mechanischen Wirkung der
Natur gleichzukommen. Eine solche Aussage,
die von einem geordneten Satzbau zeugt, kann
nicht dem verwirrten Gehirn eines in landläu-
figem Sinne Y\ ahnsinnigen entstammen, denn
Kunst bedeutet größte Konzentration.
Und schließlich haben wir auch noch seine
Briefe, aus denen wiederholt hervorgeht, daß
Vincent selbst eine ebenso klare Einsicht in
die seinen Geist heimsuchenden Zustände halte
wie der scharfsinnigste Arzt.
Wollen wir uns der Aufgabe unterziehen, ein
Lebensbild dieses außergewöhnlichen Künstler-
Menschen in ethischem Sinne zu konstruieren,
so können wir außer seinen Gemälden noch sei-
nen schriftlichen Nachlaß als Ausgangspunkt
nehmen. ^ ielleicht könnte man ihn auch, statt
von einem psychiatrischen, von einem na-
turwissenschaftlichen Standpunkt aus betrach-
ten ... als menschliches W achstum! Wäre er
kein geborener Künstler, so hätte die Natur in
ihm eine Ungereimtheit geschaffen, oder, was
undenkbar ist, sie hätte inkonsequent gehandeil.
Veranlagung oder Vorherbestimmung zu her-
vorragenden Taten ist nichts anderes, als ein
von ihr eingeschaffener, in allen Lebensnerven
zitternder Antrieb, der sich überherrschend
auf einen Punkt richtet. In dem Maße dieser
Antrieb heftig und beständig ist — und sich
von allen abweichenden Trieben freihält (wie
bei Vincent)—wird das Bestreben stark und un-
bezwingbar sein, es wird sich daraus das Ver-
mögen, sich zu konzentrieren, verschärfen, und
die energischen Kräfte werden sich selbst zum
Mittel werden, sich unerschütterlich und mit
unbewußter Sicherheit der schallenden Hand —
als mechanisches Werkzeug— zum ersehnten
Ziele hin zu entwickeln. Der Antrieb ist wie
die Lichtquelle, die unabwendbar ihre Strahlen
hervorschießl; das Maß der Veranlagung wird
von dem Drange, sich zu äußern, bestimmt.

W.Steenbofi

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