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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 47.1931-1932

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Herke, Karl: Goethes Urerscheinungslehre und der Surrealismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.16479#0324

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aatliche Museen

liegt der fast klassisch gezeichnete Akt einer nackten
Frau. Sie wird von einem gerade noch sichtbaren
Löwen angefallen; aber sie scheint an allem Ge-
schehen gänzlich unbeteiligt zu sein. Von dieser
Gestalt nun geht die eigentliche Wirkung des Bildes
aus. Gerade diese unnatürliche Ruhe in der ent-
gegengesetzten Lage von äußerster Gefahr: das
macht den fast geisterhaften Eindruck. In dieser
Beziehung erinnert das Werk durchaus an Delacroix'
Stich, wo das Geisterartige Mephistos ebenfalls
durch die gänzliche Unberührtheit bei sausendem
Ritt hervorgerufen wird. Auch darin gleichen sich,
wie gesagt, beide Bilder, daß neben den „äußersten
Fall" der Durchschnittsfall gesetzt wurde. Das Bild

höchster Gefahr hat bei Rousseau eine Ursache, und
zwar eine innere Ursache (die mit der Idee identisch
ist): Schlaf! W arum aber ist die Frau bei Ernst un-
beteiligt? Ernst kann darauf keine Antwort geben.
Genau wie man von Cezanne die Deformationen als
Selbstzweck abgeschrieben hat. obwohl der Meister
unter ihnen litt und sie nur zugestand, weil sie sich
zwangsläufig aus den Ähnlichkeitsbeziehungen der
Bildteile untereinander als „Unwahrheit jeder Form-'
(Goethe) ergaben: genau so schreibt man jetzt in
Deutschland das Schema Henri Rousseaus ab, ohne
zu beachten, daß aus dem billigen Schema erst dann
Kunst wird, wenn eine Natur dahintersteht, die zur
Offenbarung drängt.

des Rheinländers ist also nach denselben Gesetzen
der Urerscheinung gebaut wie das des großen Fran-
zosen; aber es bleibt ein unbefriedigender Rest so-
wohl beim Vergleich mit Delacroix als auch mit
Henri Rousseau.

Das vom Standpunkt des Durchschnittsfalles Un-
natürliche Mephistos löst sich bei Delacroix vom
Blickpunkt der darzustellenden Idee als etwas zu
tiefst Natürliches auf: Mephisto ist ein Geist, soll als
solcher dargestellt werden; denn es ist ihm natür-
lich, sich — unnatürlich zu geben. Noch schlimmer
wirkt Max Ernst neben Henri Bousseau: bei diesem
hat der Löwe in der Y\ üstenlandschaft einen Sinn;
wie kommt er aber bei Max Ernst in das Zimmer zu
der nackten Frau? Auch die selige Sorglosigkeit in

Als Beweis für diese Behauptung darf ich noch ein
Bild von Herbert Condrus anführen, das unter der
Bezeichnung „W arenausgabe" auf der vorjährigen
Berliner Kunstausstellung im Schloß Bellevue zu
sehen war: Gegensatz höchst erregter und bewegter
Kunden, die ihre W aren haben wollen, zu dem aus-
gebenden W arenhausmädchen, das wie eingeschla-
fen wirkt, besonders durch die buddhistisch ge-
schlossenen Augenlider. Dem Künstler schwebte
wohl eine Natur vor, die (bei aller Fixigkeit) Sicher-
heit und ruhiges Blut gerade in einer aufregenden
Lage wirklich zeigen kann. Aber bemerkt man bei
Condrus und Ernst wenigstens Gestaltungsabsichten.
Erwähnt sei schließlich noch, was ich nachträglich
durch Klaus Mann (Auf der Suche nach einem

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