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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 47.1931-1932

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Kiefer, ...: Goethe und Diderots "Essai sur la peinture", [1]: ein Beitrag zu Goethes Stellung zur Bildenden Kunst
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GOETHE UND DIDEROTS
„ESSAI SUR LA PEINTURE"

EIN BEITRAG ZU GOETHES STELLUNG ZUR BILDENDEN KUNST

Im Herbste des Jahres 1798 gab Goethe in den
..Propyläen - einen Teil der Schrift Diderots
„Essai sur la peinture*)" in eigener Übersetzung
heraus, erweitert durch ausführliche kritische
Anmerkungen, in denen er sich mit Diderot
auseinandersetzte. Diese Arbeit bietet einen tie-
fen Einblick in des Meisters Kunstanschauung.
In der Einleitung bemerkt Goethe, daß er sich
nur deshalb mit der schon vor 30 Jahren erschie-
nenen Schrift kritisch befasse, weil „Diderots
Gesinnungen in der neueren Zeit als theoretische
Grundmaximen fortspuken" und eine ..leicht-
sinnige Praktik begünstigen".
Im ersten Abschnitt, der von der Zeichnung
handelt, fordert Diderot einen möglichst engen
Anschluß an die Natur; der Künstler soll ge-
radezuFachmann auf medizinisch-anatomischem
Gebiet sein. Mit Recht scheidet hier Goethe
scharf den Künstler, der „nur zur Darstellung
der Oberfläche einer Erscheinung berufen" sei,
von dem reinen „Naturbetrachter", der „das
Ganze trennen, die Oberfläche durchdringen,
die Schönheit zerstören, das Notwendige kennen-
lernen"' müsse. „Der Künstler fühlt ein Grauen,
wenn er in die Tiefen blickt, in denen der Na-
turforscher als in seinem V aterlande herum-
wandelt." Wenn aber Diderot im folgenden die
von der Natur durchaus „korrekt"' (Goethe ver-
bessert „konsequent") gebildete Gestalt eines
Buckligen beschreibt und der Kritiker dazu be-
merkt, man dürfe eine solche Figur wohl schwer-
lich in einem Kunstwerk dulden, so zeigt sich
hier deutlich Goethes klassizistische Einstellung,
die von der Malerei des deutschen Mittelalters
nichts wissen will und die eben neu erstandene
Form des Mittelalters, die Romantik, hart be-
fehdet. Wenn Diderot im Zusammenhang mit
diesen Gedanken wünscht, man solle den Künst-
ler „entschuldigen-, der, seinem Naturstudium
zuliebe, einmal die „konventionellen Regeln (der
Schönheit)"' überschreitet, so entschuldigen wir
Heutigen dies nicht nur, sondern wir fordern

) Man beachte im folgenden, daß Diderot und Goethe unter
..Malerei*' auch Plastik und Zeichnung verstehen, wie Lessing
in seinem „Laokoon".

es geradezu. Goethe aber betont strenge den
Wert des akademischen Studiums und gewisser
Kunstgesetze, an die sich der Künstler halten
müsse. Auf eine physiologisch ganz richtige
Beobachtung Diderots, daß man in einem nor-
malen Gesicht die Nase nicht verdrehen dürfe,
ohne gleichzeitig weitere V erschiebungen im
Gesicht vorzunehmen, geht Goethe überhaupt
nicht ein, weil ihm der bloße Gedanke an ein
unsymmetrisches Gesicht in der Kunst unerträg-
lich ist, selbst, „wenn man auch von Kunst nur
zum Scherz spräche". W enn aber Diderot ver-
langt, der Künstler müsse eigentlich — genau
wie die Natur — jeden Körperteil so bilden,
daß ein Anatom aus dem Teil aufs Ganze schlie-
ßen könne, so entgegnet Goethe mit Recht, daß
der Künstler, „dankbar gegen die Natur, die
auch ihn hervorbrachte, ihr eine zweite Natur,
aber eine gefühlte, gedachte, eine menschlich
vollendete, zurückgeben- müsse.
Recht widerspruchsvoll aber klingt es, wenn der
Kritiker dem \erfasser zwar zugesteht, daß
„charakteristische, wenn auch nicht schöne Pro-
portionen", wie sie das Alter, die Gewohnheit*!
usw. hervorbringen, in einem Kunstwerk „gar
wohl ihre Stelle finden- dürften, daß aber
„Kindheit und hohes Alter aus dem Bezirk der
schönen Kunst zu verbannen" seien ! Hier spricht
der unbedingte Anhänger der klassischen Kunst,
der sich erinnert, daß die Griechen in ihrer
besten Zeit keine naturalistischen Kinder dar-
gestellt haben, sondern nur verkleinerte Erwach-
sene. Die Reize des kleinen Kindes, das wunder-
bar Charakteristische des greisen Körpers will
der Klassizist nicht gelten lassen. Mit Genug-
tuung hat Goethe beobachtet, daß die griechische
Kunst „jungfräuliche Mütter vorlügt".
Diderot, der doch offenbar das strengste Natur-
studium empfiehlt, behauptet, die allzu genaue
Kenntnis der Muskeln könne den Künstler dahin
bringen, daß er keine Haut und kein Fett mehr
sehe und deshalb alles zu stark, zu hart und

) Diderot denkt an körperliche Veränderungen, die durch
einseitige Tätigkeit — z. B. des Schmiedens — entstehen.

(Fortsetzung S. 144)

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