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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 47.1931-1932

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Heimeran, Ernst: Bilderbriefe, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.16479#0191

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BILDERBRIEFE

Schon die alten Ägypter schrieben ihre Briefe
in Bildern.

Nein, so kann man nicht anfangen. Es waren
zwar die Ägypter das schreiblustigste aller
Völker; wer abschreiben wollte, was nur in dem
einzigen Tempel von Edfu an Inschriften zu
finden ist, hätte ein paar Jahre zu tun.
Aber wer könnte so viel Vergangenheit ertra-
gen! Wen verlangte es ernstlich, daß wir etwa
mit dem ältesten historischen Brief anfingen,
den der Inderkönig Strabobates der Königin
Semiramis geschrieben haben soll, als sie mit
hunderttausend Streitwagen und fünfmalhun-
derttausend Beitern aus Babylon zu Felde zog?
Wir wollen unser Thema dort beginnen, wo es
zwar schon 4ooo Jahre seiner Geschichte alt, wo
es uns aber ganz nahe ist: nämlich in der Zeit
unserer Großväter, Väter und Söhne, also in
unserer Zeit.

Von dem englischen Dichter und Wunderkinde
Thomas Chatterton erzählt Ernst Penzoldt, daß
ihm beim Lesen jedes Wort eine Beziehung von
Bildern wurde, ein Beigen von bunten Königen,
heiligen Tieren, Hand in Hand wandelnd und
im Chore sprechend. Hierin wird der geheimste
Sinn des Bilderbriefes ausgesagt, so nämlich,
daß Schrift allein schon die Vision von Bildern
geben, daß Schrift auch heute noch nicht nur
als Mitteilung, sondern als Hieroglyphe, als
Bildzeichen empfunden werden kann. Es läßt
sich dabei auch jener Namenszüge, jener Unter-
schriften wie der eines Wrangeis, Wallensteins,
Ifflands gedenken, die nicht mehr lesbar, son-
dern nur noch Symbole von Phantasie und
Energie sind ; die Schnörkelkunst einer Königin
Elisabeth und die Schlußstriche so bescheiden
ansetzender Unterschreiber wie Haydn und Schu-
bert gemahnen noch an den jahrtausendalten
Hang zu bildnerischer Schreibefreiheit.
Die tiefe Verwandtschaft von Schrift und Bild
ruft in jeder schreibenden Hand irgend einmal
ein Ineinander und Nebeneinander von Buch-
stabe und zeichnerischer Darstellung hervor.
Als ob sich die Schrift besänne, daß sie einst
Vogel und Baum, Sonne und Wolke, Gerät und
Antlitz gewesen sei, so verläßt sie die gedachte
Grundlinie und beginnt bildnerische Figur

anzunehmen. Das Ding tritt an Stelle seines
Wortes.

Jeder von uns hatte dieses Erlebnis: er sitzt etwa
im Gespräch am Telephon und macht Notizen,
sachliche Zahlen vielleicht, da läuft der Bleistift
auf einmal in Ornamenten, Banken und Gestal-
ten aus. Die Neuner haben Nasen bekommen,
die Nuller Gesichter, die Einser marschieren
wie Soldaten und wir hängen plötzlich der
deichen Lust nach wie ein Schulbub, der den
Deckel seiner Grammatik bekrilzelt. Das nennen
wir dann ein Geschmier machen, aber wir tun
uns Lnrecht. Darzustellen ja drängt es uns,
nicht anders als einen Maler, dem sich V\ olken
zu himmlischen Heerscharen deuten. Das Be-
sultat mag hier gegen dort unvergleichlich ge-
nug ausfallen: der geistige Ansatz ist hier wie
dort derselbe.

Von Dostojewsky wird niemand zeichnerischen
Ehrgeiz behaupten wollen. Y\ arum aber wim-
melt es in seinen Manuskripten von Figürchen,
Sächelchen, Architekturen ? \\ arum hat E. T. A.
Hoffmann seine letzte Erzählung „Des Vetters
Eckfenster", als er dem Tode entgegenlitt, nicht
nur diktiert, sondern in einem Skizzenblatte
aufnotiert? Warum haben die Männer der
Nansenschen Polarexpedition sich manches
Erlebnis lieber schlecht und recht aufgezeichnet
als aufgeschrieben, obwohl sie dazu in Nacht
und Eis doch Zeit genug gehabt hätten ? Hier
führt die Hand überall ein Verlangen nach
Sichtbarkeit, dem selbst im unbeholfenen Ge-
kritzel solcher Männer, die alle keine Zeichner
waren, mehr Genüge getan schien, als im be-
redtesten W orte. Y\ enn nun gar eine künstle-
rische Doppelnatur diesem Verlangen nach einer
Schrift- und Bild-Ehe entspricht, dann wird
vollends die schöpferische Lnleilbarkeit von Ge-
schriebenem und Gezeichneten deutlich.
Es handelt sich hier nie um Illustration, be-
dachte Ausschmückung eines gegebenen Textes
also, sondern um unmittelbare Einheit von
schriftlichen und bildnerischen Gedanken. Diese
Gedanken brauchen nicht um den gleichen Ge-
genstand zu kreisen; so gibt es von Lionardo
da Vinci und von Michelangelo Blätter, auf
denen gleichzeitig anatomische Skizzen, Sonett-

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