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Das Kunstgewerbe in Elsaß-Lothringen — 3.1902-1903

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Das Reliquiar der heiligen Attala in der St. Magdalenenkirche zu Strassburg
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https://doi.org/10.11588/diglit.6478#0093

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Prof. Dr. Leitschuh : Das Reliquiar der heiligen Attala.

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Fig. 37. Korknachbildung des Bollwerkturms in Mül-
hausen aus dem Museum zu Mülhausen, n o o n n ^

wissen Mysticismus angeweht ist, ihm kaum
abgesprochen werden kann.

Und die Gottfried von Strassburg von
Kindheit an wohl vertraute Gestalt der
hl. Attala, das sagenumwobene Geschick
ihrer Hand — «von dem rehten soll man
keinem nit tun, der do heiltum von liebe
stilet» sagt die Lombardische Chronik — sie
musste den Dichter ganz besonders reizen;
hat doch auch die Glasmalerei zu Gottfrieds
Zeit im Strassburger Münster die Lebende
benützt, die Mäuse und Ratten hätten den
Bischof Wider hold verzehrt, weil er die Re-
liquien der wundertätigen Äbtissin aus der
St. Stephanskirche habe entfernen lassen.

Fassen wir die einzelnen Beweispunkte
nochmals kurz zusammen.

Ungewöhnlich und jedenfalls nicht
durch die Willkür des Notars erklärbar
erscheint es, dass Godefritus Cidelarius in
der Urkunde von 1207 als de Argentina
und nicht als Argentinensis bezeichnet wird.
Nicht allein die Eigenschaft des Dichters
als Ministeriale wird dadurch sehr nahe
gelegt, sondern auch die Annahme, dass
Cidelarius eben als Gottfried von Strass-
burg allgemein bekannt war. Ungewöhnlich
und kaum durch einen Fehler erklärbar
erscheint ferner in der Inschrift des
Reliquiars die doppelte Namensbezeichnung
Gothefrit. Der Zeuge in der kaiserlichen
Urkunde von 1207 und der Stifter des
Reliquiars sind aber gewiss ein und dieselbe
Person. Ist aber der Dichter Gottfried von
Strassburg ein Ministeriale gewesen —
und seine Bildung, die vollendete Herr-
schaft über die Sprache, die ungewöhnliche
Kenntnis des religiösen und sozialen

Lebens seiner Zeitgenossen und besonders
der sozialen Konflikte weist darauf hin, —
dann war Gottfried von Strassburg kein
anderer als der mitten im Leben und
Treiben der mächtig emporblühenden freien
Reichsstadt stehende Gottfried Cidelarius.

In des Dichters Werk bewundern wir
den feinen Kunstsinn: auch bei seiner
Stiftung an das Kloster Stephan erfreut
uns das feine Formgefühl, das eines der
schönsten im Bau und Ausführung vor-
nehmsten Geräte der Übergangszeit erste-
hen liess. Das Reliquiar verläugnet in seinen
Einzelheiten keineswegs den Anbruch einer
neuen Zeit, aber es ist ein vollendetes Kunst-
werk auch vom kirchlichen Standpunkte
aus. Und mit welch' edler Spenderlust mag
Gottfried den Auftrag zur Ausführung
dieses Werkes erteilt haben! War in seiner
Zeit doch, wie erwähnt, besonders die
Erinnerung daran in Strassburg lebendig,
dass ein Bischof aus Neid und Eifersucht
auf die Wallfahrten der Gläubigen zu den
Gebeinen der hl. Attala ihren Körper aus
der St. Stephanskirche entfernen liess.
Und schliesslich sei noch ein seltsamer Zu-
fall berührt: in dem Wappen eines Ritters
Dietrich, dictus Cidelarius Vogt zu Dossen-
heim für die Abtei Schwarzach, erscheinen
1246 sechs flache Hände, ähnlich der Hand
der Attala.

Die Lebensgeschichte Gottfrieds, über
die bisher nichts zu ermitteln war, wäre
— wenn unsere Vermutungen zutreffend
sind — damit heller beleuchtet und die Ge-
stalt eines der grössten Dichter und Künst-
ler, eines der lichtesten Geister unserer
Kulturgeschichte, uns durch ein Kunstwerk
aus seiner Zeit menschlich näher gebracht

Siegel des Kitters Dietrich, dictus Cidelarius.
 
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