Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Editor]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 51.1900-1901

DOI article:
Kerschensteiner, Georg: Gewerbliche Erziehung: Festvortrag, gehalten zum 50jährigen Jubiläum des Bayerischen Kunstgewerbevereins
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.7003#0293

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Gewerbliche Erziehung.

439. Fliesen (grün und rot auf gelblichem Grund); Entwurf von Fanny
bformann, Bremen. — Schule Vasio, München.

Theoretisch genommen, wären ohne Zweifel wohl-
eingerichtete Lehrwerkstätten mit Internat eine äußerst
günstige Einrichtung. Allein aus diesen: Wege, so
sehr er für die Ausbildung einzelner besonders tüch-
tiger Arbeiter gefordert werden muß, ist eine Er-
ziehung der Massen unmöglich, einmal deshalb, weil
die Aasten unerschwinglich würden, dann aber auch,
weil, wie wir nachher sehen werden, ein ungemein
wichtiger Erziehungsfaktor ausgeschaltet würde. Es
bleiben also neben der Meisterlehre nur die Innungs-
und Genossenschafts-Fachschulen, sowie die elemen
taren Fortbildungsschulen und gewisse sociale Ein
richtungen übrig, auf welch letztere wir übrigens
nicht näher cingshen können.

Wie mangelhaft nun heute die Meisterlehre viel
fach geworden sein mag, und wie gering auch die
Leistungen der Innungsfach- und Fortbildungsschulen
angesetzt werden mögen, so kann man doch nicht
behaupten, daß sie bei einiger Sorgfalt unserseits
nicht dennoch erziehungskräftig ausgestaltet werden
können, ja man wird sogar für die Ausgestaltung
dieser elementaren Erziehungseinrichtungen die aller-
größte Sorge aufwenden müssen, weil sie vor allem
die Massen treffen. Nun bezweckt aber die Innungs-
fachschule als Ergänzung der Meisterlehre in der
Hauptsache fast nur die praktisch-technische, die ge-
werbliche Fortbildungsschule fast nur die theoretische

Ausbildung. Da erscheint es für
unsere Erziehungsaufgaben als äußerst
förderlich, eine Elementarorganisation
zu schaffen, in welcher die Bestrebungen
der Innungsfachschule mit denen der
Fortbildungsschule aufs innigste ver-
schmolzen werden, und in welcher so-
wohl die Gewerbeangehörigen als auch
der Staat, bezw. die Gemeinde in das
Interesse der gewerblichen Erziehung
sich teilen. Mir werden nachher diese
höchst wichtige Verschmelzung auch
noch aus einem anderen Grunde als
notwendig erkennen. Seit zwei Jahren
machen wir in München mit gutem
Erfolg diesen neuen Versuch und suchen
auf dieser Basis das ganze elementar
gewerbliche Erziehungswesen auszu
bauen.

Erklären wir uns nun mit dieser
Basis einverstanden, so erhebt sich die
weitere Fundamentalfrage: Soll die
Einrichtung für die elementargewerb-
liche Erziehung, welche die Massen
des gewerblichen Nachwuchses trifft,
obligat oder fakultativ fein? Fast
alle Direktoren von jenen freiwilligen Gewerbe-
schulen, die ich in Österreich, Schweiz, Preußen, Baden,
Württemberg besucht, haben sich aus ganz begreif-
lichen Gründen mir gegenüber in der schärfsten Form
gegen jedes Obligatorium ausgesprochen. Umgekehrt
kämpfen die Vorstände von obligaten Schulen mit
Mort und Schrift dafür. Blickt man auf Württem-
berg, so erscheint bei oberflächlicher Betrachtung die
Frage direkt zu gunsten der Freiwilligkeit gelöst:
denn dort trafen bereits im Jahre ^889 auf drei
Lehrlinge ungefähr zwei Fortbildungsschüler. Nun
darf aber nicht übersehen werden, daß in fast allen
Fortbildungsschulen Württembergs der Unterricht auf
eine Zeit gelegt ist, die zwar den Meistern taugt,
aber für Erziehung und Bildung der Lehrlinge
äußerst ungünstig liegt und in der That auch die
Leistungen der Elementarabteilungen der württem-
bergifchen Gewerbeschulen stark beeinträchtigt.

Solange daher auf der einen Seite viele Meister
sich freiwillig nicht dazu verstehen wollen, einen oder
zwei Nachmittage der Woche dem Lehrlinge für
seine Fortbildung einzuräumen, solange also nicht
jeden: tüchtigen Lehrling unsere Bildungseinrichtungen
offen stehen, und solange anderseits Pandel und
Gewerbe, die öffentlichen Staatseinrichtungen, ja die
eigene Existenz des Einzelnen wie des Staates eine
hinreichende gewerbliche Ausbildung unbedingt ver-

2S8
 
Annotationen