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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 55.1904-1905

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Wohnungskunst und Kunstgewerbe
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https://doi.org/10.11588/diglit.7198#0181

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Wohnungskunst und Knnstgewerbe.

305. Schmuckschale von Fr. v. Miller. Perlmuttermuschel, mit vergoldetem
Silber zum Fisch umgestaltet. (7s der wirkl. Gr.)

jetzt verfiel man in die uferloseste Willkür, denn man konnte
nur von den Werken von ein paar Künstlerindividualitäteu
ableiten, ^und das tat man aus dieser persönlichen Kunst mit
noch weniger Verständnis, als man aus den historischen Stilen
abgeleitet hatte. Das neue Vrnament aber, das man mit Hilfe
des zur Lösung erhobenen Studiums der Pflanze entwickeln
wollte, blieb in der Hand unzureichender Kräfte ebenso ärmlich,
nüchtern und hilflos, als die zur breiten Bettelsuxxe verall-
gemeinerten Ableitungen aus der Kunst der Führer. So ist man
mit dem sogenannten Jugendstil in ein noch schlimmeres Fahr-
wasser geraten als das war, in dem man zur Zeit der Nach-
ahmung der Stile segelte.-—

Es handelt sich aber darum, daß die Welt endlich ein-
sieht, daß Vrnament und Kunstgewerbe nicht dasselbe sind, daß
es sich um Bildungen und nicht um Verzierungen handelt, und
daß eine Form darum nicht weniger zum Kunstgewerbe gehört,
weil sie nicht geschmückt ist. Der verhängnisvolle Gedanke des
Geschmücktseinmüfsens hat das ganze künstlerische Elend der
Gegenwart heraufbeschworen.

Klan kann sich ornamentalen Schmuck von Künstlerhand
gefallen lassen, wie man das Gedicht eines Dichters liebt. Aber
man stelle sich vor, daß nun alle Welt poetisch sprechen will
und unser Ghr gar nichts anderes mehr vernehmen soll als
die abgeleiertste Reimerei. Wie fürchterlich! Und doch ist in
diesem^ Stadium das heutige Kuustgewerbe von der Marke
Jugendstil, und was wir uns, unserm Vhr zugemutet, schreck-
lichfdenkenpdas muß unser Auge täglich ertragen. Auch die
neuen Erzeugnisse strotzen von Schmuckformen. Die Fabriken
stanzen heute genau so diese Jugendornamente, wie sie früher
Rokokoornamente stanzten.-- —

Würde aller unnötige Aufbausch, aller Ungeschmack, alle
Unsolidität, die heute das Feld beherrschen und in der Aus-
stattung der, heutigen Wohnung geradezu den Ton angeben,
aus der Welt geschafft, so wären wir vielleicht auf einem voll-
kommen glücklichensStandpunkte, ohne die Kunst heranholen zu
brauchen. Statt dessen machen wir in sogenannter Kunst und
häufen damit nur Übel auf Übel.

Unsere heutige deutsche Gesellschaft wird beherrscht von
xarvenuhafter Prätension und verbringt ihr Leben in einer
Scheinkultur. Nachdem sich der Bürgerstand auf sicherem Fuße
einigermaßen behaglich fühlt, hat er das lebhafte Bestreben,
sein Ansehen zu bessern, und er glaubt das vor allem durch

Anheften von aristokratischen Flicken der Ver-
gangenheit tun zu können. — — —

was hat der Bürger mit den höfischen
vergoldeten Rokokostühlen, was mit den Pracht-
plafonds zu tun, was mit den doppelarmigen
Marmorpalasttreppen, die in seine räumlich
bescheidene Mietwohnung führen? Alle diese
Dinge sind nicht bürgerlich, sie sind einer aristo-
kratischen Kultur entlehnt. Allerdings sind sie,
das muß man zugestehen, meistens für die
veränderte Verwendung paffend zurechtgemacht,
sie sind jetzt sowohl im Material als in der
Herstellung unecht, d. h. aus Surrogaten zu-
fammeugesetzt, während sie früher echt waren.
Und so repräsentieren sie, ein merkwürdiger
Hohn des Schicksals gerade in ihrer Unechtheit
treffend die Gesinnung, aus der sie angewandt
werden. Die Surrogate liefert heute die Fabrik
in billigster Maschinenarbeit. Sie sehen äußer
lich gerade so aus wie die echten Sachen, warum

sich also nicht ihrer bedienen?--—

Wodurch unterscheidet sich das Maschinensurrogat von
der Handarbeit? Dadurch, daß es eine Wiederholung ist, der
der Geist fehlt. Lin Vrnament, das von Menschenhand ge-
fertigt ist, trägt die Spuren der Herstellung an sich, des künst-
lerischen Antriebes des Schaffenden, Freud und Leid seines voll-
bringens, die Lust an der Arbeit. Die Maschinenarbeit gibt
von diesem Leben nur die Totenmaske. Und nicht allein dies,
sondern sie macht die frühere Eiuzelkuustleistung durch ihre

306. Trinkhorn von Fr. v. Miller. Fuß aus Kupfer, Fassung
aus vergoldetem Silber, der Deckel mit Filigran und Halbedel-
steinen geschmückt. (7s der wirkl. Gr.)

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