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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 20.1909

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Schmidt, Karl Eugen: Pariser Brief, [2]
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IPariser Brief

296

gäbe eines modernen »Bartsch« verdient macht. —
Le Peintre - Graveur illustre du XIX et XX siecle
nennt er das vortreffliche Werk —, Gaston de La-
tenay, Raoul du Gardier, Etienne Moreau-Nelaton,
Victor Prouve, Francois T. Simon, den ich bei den
Ausländern hätte nennen müssen, denn er ist Tscheche,
Jacques Villon und einige andere sehr sehenswerte und
tüchtige Radierer. Alles in allem ist man den Ver-
anstaltern der Ausstellung dankbar, denn in dem un-
geheuren Kunstmeere der Salons verschwindet die
Griffelkunst durchaus, und man hat nie ordentlich
Gelegenheit, sie nach Gebühr eingehend zu studieren.
Diese Sonderausstellungen bieten dazu Gelegenheit,
und das muß man dankbar anerkennen, wenn auch
lange nicht alle interessanten französischen Radierer
hier vertreten sind.

Eine retrospektive Ausstellung der Arbeiten Georges
Seurats gibt uns Gelegenheit, die heute schon fast
abgetane Richtung der Neo-Impressionisten in ihren
Anfängen zu studieren. Einer von ihnen, der dem
eigentümlichen Mal verfahren treu geblieben ist, das
Seurat »erfunden« hatte und das neben ihm beson-
ders von Theo van Rysselberghe, Croß und Signac
angewendet wurde, hat ein kleines Büchlein über
die Technik der Neo - Impressionisten geschrieben.
Paul Signac, denn er ist der Verfasser dieser Schrift,
beruft sich darin auf Eugen Delacroix, der in einem
Tagebuch rät, man solle grüne und violette Töne
nebeneinander auf die Leinwand setzen, ohne sie vor-
her auf der Palette gemischt zu haben. Signac hätte
bei genauerem Studium gewiß noch andere und ältere
Vorfahren aufstöbern können. In einem Buche, wo man
das nicht suchen würde, nämlich in dem vor einem
halben Jahrhundert erschienenen und von Goncourt
eingeleiteten Tagebuche des deutschen Radierers Wille,
der siebzig Jahre lang in Paris gelebt hat und hier
der Patriarch der Radierung des achtzehnten Jahr-
hunderts war, finden sich im Anhange Bemerkungen
des ebenfalls aus dem achtzehnten Jahrhundert stam-
menden Kunstschriftstellers Bachaumont über die von
Wille in seinen Tagebüchern genannten Künstler. Da
steht von dem wunderbar reizenden Stillebenmaler
Chardin: »Er hat eine sonderbare Maltechnik: er setzt
seine Farben eine neben die andere, fast ohne sie zu
mischen, so daß seine Malerei fast wie Moasik oder
eingelegte Arbeit aussieht, wie die mit der Nadel
ausgeführten Stickereien, die man point carre nennt.«

Chardin ist also eigentlich ein noch echterer
Stammvater des Neo-Impressionismus als Delacroix,
der zwar einmal in einer Tagebuchnotiz die Nicht-
mischung der Farben empfiehlt, in seinen Arbeiten
aber diese Methode fast niemals angewendet hat. Sei
dem, wie ihm wolle, jedenfalls hat Seurat die Technik
erneuert und ist dabei ohne Zweifel über das rechte
Ziel hinausgeschossen. Denn so gut sich diese Tüpfel-
manier auch für gewisse Zwecke eignen mag, zu allem
taugt sie gewiß nicht. Außerdem kann man von
dieser wie von allen Techniken und Malweisen sagen:
sie sind alle gut, wenn sie von dem rechten Mann
benutzt werden. Chardin war ein ganz großer Maler,
ein wirklicher Meister, und mit irgend einer Methode

hätte er Großes erzielt. Rembrandt, Velasquez, Tizian
hätten mit Tupfen oder Strichen, mit Pinsel oder
Spachtel, mit einem Besenstiel oder mit den bloßen
Fingern großartige Malereien geschaffen. Die Methode
ist überhaupt Nebensache. Seurat aber war keines-
wegs ein großer Meister: wenn er nicht diese auf den
ersten Blick so verwunderlich aussehende Pünktchen-
manier erfunden hätte, würde kein Mensch vor seinen
Bildern stehen bleiben. Er steht und fällt mit seiner
Technik. Die besten Sachen, die in den Ausstellungs-
räumen des Kunsthändlers Bernheim von ihm zu sehen
sind, sind seine Zeichnungen, worin er sich als achtens-
werter Beherrscher der allein mit schwarz und weiß
zu erreichenden Lichtwirkungen zeigt. Man denkt
vor diesen Blättern, daß Seurat eigentlich zum Ra-
dierer geboren war, weit mehr als zum Maler.

Da Seurat schon im Alter von 31 Jahren gestorben
ist, bleibt der Umfang seines Lebenswerkes nur gering.
Fast alle seine größeren dekorativen Gemälde, dazu
viele Studien und Vorarbeiten, sind bei Bernheim zu
sehen. Sie sind alle schon bekannt, wenigstens für
den mit den älteren Pariser Kunstaustellungen Ver-
trauten. Immerhin ist es gut, sich vor ihrer Gesamtheit
über die Bedeutung Seurats klar zu werden. Um
dekorativ zu wirken, gab er seinen menschlichen
Gestalten eine hieratische, beinahe geometrische Form,
die zuerst beinahe komisch wirkt. Man hält ihn für
unbeholfen, aber die daneben hängenden Vorarbeiten
zeigen, daß er einen lebendigen und modernen Men-
schen sehr wohl zeichnen und auch malen konnte.
Er wollte die menschliche Gestalt auf ihre Synthese
zurückbringen, und daraus entstanden dann diese
kegelförmigen Frauen und diese Männer und Tiere,
die aus einem Kasten Nürnberger Holzspielsachen
genommen scheinen. Die sehr oft unruhig herum-
wirbelnden Pünktchen machen den komischen Ein-
druck noch stärker: man hält die Sache für eine
gegen Holzpuppen geführte Konfettischlacht. Un-
verkennbar ist aber doch das starke Wollen und
Ringen, das fleißige Suchen und rastlose Tasten des
Künstlers, und es ist immerhin möglich, daß seine
Bewunderer recht haben, und daß er bei längerem
Leben eine wirklich großartige dekorative Arbeit ge-
schaffen hätte. Aber allzu wahrscheinlich ist das
wirklich nicht, und wie er in seinem Lebenswerke
vor uns steht, erhebt sich Seurat nur durch seine
auffallende Technik über das Gewöhnliche und Mittel-
mäßige. Und vermutlich ist es falsch, aus dem Suchen
und Probieren des Jünglings auf die nachmals von
dem Manne zu leistende Arbeit zu schließen. Denn
wer versucht und probiert nicht als Jüngling? Selbst
die nachmals ganz die ausgetretene und breite Land-
straße entlang ziehenden Lieferanten gangbarer Kunst-
ware haben häufig in ihrer Jugend zu den Suchern, ja
sogar zu den Drängern und Stürmern gehört. Für
die weitere Laufbahn beweist das nichts, und vielleicht
säße jetzt Seurat als schulmeisterlicher akademischer
Brotmaler unter uns, wenn ihm ein längeres Leben
beschieden worden wäre.

Jedenfalls hat seine Technik ihn überlebt, daß ihr
aber die siegreiche Laufbahn beschieden sein wird,
 
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