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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 20.1909

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Woermann, Karl: Ludwig Justis "Giorgione"
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https://doi.org/10.11588/diglit.5951#0267

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517

Ludwig Justis

»Giorgione«

5l8

der gleichen und in welchen man anderer Ansicht ist, als
er. Eigentlich müßte der Kritiker, ehe er sich vernehmen
ließe, alle diese Bilder nochmals selbst aufsuchen und nach-
prüfen. Aber wenn das verlangt würde, würden wohl
überhaupt nur wenig Bücher besprochen werden können.
Von jenen 25 Bildern, an die ich mich halten will, habe
ich seit dem Erscheinen von Justis Werk nur einen Teil
wiedergesehen, kenne ich einige wenige, wie die beiden
frühen Bilder der Sammlung Conway, überhaupt nur aus
den Nachbildungen. Aber eigene Erinnerungen und Notizen,
gute Abbildungen und selbst die Überredungskunst eines
ernst zu nehmenden Kenners sind doch nicht zu unter-
schätzende Hilfsmittel. Auf diesen Hilfsmitteln ruht auch
mein Urteil über diejenigen jener 25 Bilder, die ich im
letzten Jahre nicht wiedergesehen habe. Im allgemeinen
glaube ich, daß Justis Urteil über diese 25 Bilder zutrifft.
Von den 9 frühen Bildern, die Justi als die »Allendalex-
Gruppe zusammengestellt hat, bezweifle ich höchstens die
Petersburger Madonna in der Landschaft, die mir zu lahm
für Giorgione zu sein scheint. Von den späteren Bildern
wage ich das männliche Bildnis in Temple Newsam nicht
nach der Abbildung zu bestimmen. Im übrigen aber bleibe ich
dabei, mit Cavalcaselle und Justi das Konzert des Palazzo
Pitti, mit Morelli und Justi die »Pastoralsymphonie« (Cook)
des Louvre als Schöpfungen Giorgiones anzuerkennen, ja,
ich bin, nachdem ich das Bild vor kurzem wiedergesehen,
sogar geneigt, mit der Überlieferung und Justi in der Ma-
donna mit Heiligen des Louvre eins der letzten Bilder des
Meisters zu erkennen. In bezug auf den »Sturm« in der
Akademie zu Venedig und die »Pietä« in Treviso, gegen
die ich mich bisher völlig ablehnend verhalten habe, bin
ich zufrieden, daß man mir nicht zumutet, in ihrer jetzigen
äußeren Erscheinung Giorgiones Hand zu erkennen; in
bezug auf den »Bravo« in Wien und den »Fugger« in
München, freue ich mich einstweilen, anerkannt zu sehen,
was ich stets behauptet habe, daß ein so schwacher Meister,
wie Cariani uns in seinen beglaubigten Bildern erscheint,
sie unmöglich gemalt haben kann. In bezug auf den
»Aeneas« in Wien und die »Hypfipile« bei Giovanelli in
Venedig, diese beiden köstlichsten erhaltenen Urkunden
des künstlerischen Empfindens unseres Meisters, gestehe
ich, daß sie mir durch Wickhoffs entlegene mythologische
Deutung fast verleidet werden könnten. Ich neige mehr
dazu, diese papieren wirkenden Deutungen mit Gronau ab-
zulehnen, als sie mit Cook und Justi weiter zu verbreiten.
In bezug auf die zwischen Giorgione und dem jungen
Tizian, seinem Schüler, strittigen Bilder, wie das weibliche
Bildnis bei Crespi in Mailand, die Zigeunermadonna in
Wien und den »Ariost« in London, scheint mir Justis
Zurückhaltung durchaus gerechtfertigt. Hoffentlich wird er
bis zur Vollendung seines Buches über Tizian, das er in
Aussicht gestellt hat, in der Lage sein, sich und uns Klar-
heit darüber zu verschaffen. Sehr groß ist meine Hoffnung
in dieser Beziehung freilich nicht. Gewisse Fälle werden
ihrer Natur nach ewig streitig bleiben. Persönlich neige
ich mehr dazu, diese Bilder Tizian zu lassen.

Außerordentlich klein ist die Anzahl der Bilder, die
Justi im Gegensatz zu Cavalcaselle oder zu Morelli ver-
wirft. Daß das Gemälde der »Drei Lebensalter« im Pa-
lazzo Pitti weder von Lotto noch von Giorgione, sondern,
wie Mary Logan wahrscheinlich gemacht, von Morto da
Feltre herrührt, erkennt Justi mit den meisten neueren
Forschern an. Nicht völlig aber verstehe ich, daß Justi
den zwar von Cavalcaselle bezweifelten, doch nicht unbe-
dingt für unecht erklärten, dagegen von Morelli, Berenson,
Cook, Gronau usw. anerkannten »Malteserritter« der Uffi-
zien aus Giorgiones Werk gestrichen hat, um ihn eher
Tizian zuzuschreiben. Jedenfalls bin ich mit Gronau der

Meinung, daß die Bestimmung des Damenbildnisses der
Galerie Borghese mit der dieses Uffizienbildes steht und
fällt. Diesem Damenbildnis aber, das Justi unbedenklich
in sein engeres Verzeichnis (Bd. I, S. 278 u. 279) der Ge-
mälde Giorgiones aufgenommen hat, setzt er doch auch im
Texte nur ganz leichte Bedenken entgegen.

In bezug auf unsere herrliche Dresdener Venus, die
jedoch nicht, wie Justi (S. 32) meint, von Holz auf Lein-
wand übertragen, sondern gleich auf Leinwand gemalt ist,
möchte ich noch einmal hervorheben, was erst in den
letzten beiden Auflagen meines Galeriekatalogs hervortritt,
übrigens von Justi keineswegs übersehen worden ist, daß
das von Hantzsch erst 1902 veröffentlichte Gemäldever-
zeichnis von 1707 unser Bild im Gegensatz zu dem In-
ventar von 1722, das es als Tizian aufführt, noch ausdrück-
lich als Original von Giorgione bezeichnet.

Auf die zahlreichen übrigen Bilder einzugehen, die
Justi teils als verdorbene Gemälde Giorgiones, teils als
Kopien nach verlorenen Originalen des Meisters, teils als
Schulbilder ansieht, teils aber auch nur frageweise zu ihm
in Beziehung setzt, würde mich hier zu weit führen. Nur
die Möglichkeit, daß Giorgione die berühmte Herodias
der Galerie Doria in Rom gemalt habe, will mir nicht ein-
leuchten. Im allgemeinen aber wird man den ausführlichen
Besprechungen und Beurteilungen Justis Vertrauen ent-
gegenbringen. Justi hat eine große Gabe, seine Ansichten
sachlich und dialektisch zu stützen.

Natürlich findet Justi im Verlaufe seiner ausführlichen
Darstellung oft genug Gelegenheit, sich auch über allge-
meine kunstgeschichtliche Fragen zu äußern. Völlig unter-
schreibe ich, was er gegen die neuere Methode, die Kunst-
geschichte von der Künstlergeschichte loszulösen, ausführt.
»Immerhin«, sagt er (Bd. I, S. 289), »bleibt es eine Tat-
sache — trotz der modernen Versuche, die Welthistorie in
eine plebejische Statistik aufzulösen —, daß die Geschichte
von Persönlichkeiten gemacht wird, und am meisten natür-
lich auf den persönlichsten Gebieten: Religion und Kunst«.
Selbstverständlich freilich darf man auch die Künstler-
geschichte nicht aus der Kunstgeschichte loslösen. Ebenso
einverstanden bin ich mit seiner Abwehr der Bestrebungen,
den Inhalt der Kunstwerke aus ihrer Bewertung so gut
wie völlig auszuschalten. »Inhalt ohne Form«, sagt er
(S. 304), »ist kein Kunstwerk«, »Form ohne Inhalt eben-
sowenig«. Weniger überzeugt mich seine grundsätzliche
Verteidigung (S. 14 u. 307) der modernen Anschauung, die
der Landschaft und dem Himmelsstrich eines Kunstbezirks
jeden Einfluß auf die Ausbildung besonderer Kunst-
richtungen abspricht. Schon die prächtige Beschreibung,
die er selbst (S. 341) von der Darstellung des Himmels
und der Luft in der holländischen Malerei des 17. Jahr-
hunderts gibt, beweist eigentlich das Gegenteil. Daß die
Farbenpracht der venezianischen Kunst durch die Lage
Venedigs als solche bedingt ist, wird niemand behaupten.
Nur die Handelsbeziehungen Venedigs zu dem farben-
reichen Osten sind mit Justi dafür anzuführen. Daß aber
die träumerische weiche Seelen- und Farbenstimmung in
Giorgiones Bildern mit der landschaftlichen Stimmung zu-
sammenhängt, die Venedig beherrscht, führt ja auch Justi
selbst (S. 307—308) vortrefflich aus: »Statt des lebhaften,
scharfkantigen aber feststehenden Farben- und Lichtspiels
florentinischer Gassen die zarte, ruhige Spiegelung der
Kanäle, das ewige Fluktuieren feinster Nuancen, das
Flimmern der Reflexe auf den Marmorfassaden; statt der
nahegerückten, engabschließenden Gebirgsmassen die stille
weite Lagune, über der nur an klaren Tagen die fernen
Höhenzüge wie verträumt auftauchen.« Die Meinungsver-
schiedenheit scheint also nur grundsätzlicher Natur, tat-
sächlich scheinen wir der gleichen Ansicht zu sein.
 
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