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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,3.1910

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Heft 13 (1. Aprilheft 1910)
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Böhm, Hans: Zur Lyrik der Gegenwart
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https://doi.org/10.11588/diglit.9021#0027
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weil das Genie vor ihnen auf dem Bauplatz war. Iener Blick für das
Ganze und für die rechten Verhältnisse der Teile zum Ganzen geht
verloren, es wächft der Reiz der Nebendinge, die Freude an der
Äbertreibung, die Lust an der Verzerrung. Die Karikatur blüht, die
einem Goethe verhaßt und letzten Endes unverständlich war. Solche
Lntwicklnngen lassen sich in jeder Kunst verfolgen, sehr schön und
rein z. B. in der Architektur. Der Charakter der Poesie als der geistig-
sten Kunst bringt es mit sich, daß hier die sittlichen Wandlungen
deutlicher und lauter werden. Man kann von Goethe sagen, daß
in jedem seiner Gedichte der ganze Mann sei, — der eben bei der
vorliegenden Veranlassung genau das und nicht mehr sagt, als er
^ verantworten kann, verantworten gegenüber früheren und späteren
Gelegenheiten und Situationen, d. h. gegenüber dem Ganzen seines
I Bewußtseins; er behält stets die Zügel in der Hand, ein Herr des
Augenblicks und seiner Verwirrnng. Das gleiche zeigen jene andern
Dichter, die wir in Goethes Gefolge sahen: auch sie lassen nur das
geordnete, geklärte Gefühl in ihrer Dichtung laut werden, auch sie
wissen sich jederzeit verantwortlich, nur ihre starken Stunden dürfen
reden. Die reden knapp und sicher, und lassen das Ilnwesentliche, Per-
sönliche, Zufällige ungesagt.

Das geschieht so lange, bis es einer neuen Generation langweilig
und altmodisch vorkommt. Nicht nur die Rechtsprechung legt sich,
nach dem Worte eines berühmten Iuristen, alle 50 Iahre auf die
andere Seite. Viel reizvoller, amüsanter, pikanter ist es ja, jenes
bisher Verschwiegene einmal hinauszuschreien, jenes Chaos unge--
säubert auszubreiten, der Laune, dem Besonderen, Absonderlichen
nachzugehn und nachzugeben. Das Triebhafte dringt vor, eine erregtere
Sexualität, ein ungeordnetes Phantasieleben. So entsteht ein selt--
sames Spezialistentum, indem jeder seine eine, oft löcherige, oft ver-
stimmte Pfeife bläst und zur vieltönigen Pansflöte weder Lust noch
Geschick zeigt. Im Stofflichen greift man gern zu alten werten
Motiven, um sie zu entseelen; im Formalen tritt eine Auflösung
ein; die Strophe wird zugunsten der Zeile vernachlässigt, die sinn-
lichen Reize der Sprache werden nervös übertrieben. Die Vorliebe
für den uneigentlichen Ausdruck, für Bilder und Metaphern
nimmt ungemessen zu: es ist nämlich ein Irrtum, anzunehmen, der
kurze, sachliche und eigentliche Ausdruck sei der leichteste; er ist es
erst, wenn er einmal gefunden worden ist; für werdende Gefühle
ist das Bild und die Nmschreibung bei weitem das Leichtere. (Mit
Anschaulichkeit hat das nicht das mindeste zu tun.) Nndeutlichkeit und
Weitschweifigkeit sind Produkten einer Äbergangszeit eigen: jeder
neue Gefühlszustand hat zwar sein Zentrum, und das Genie trifft ins
Schwarze; aber die Talente vor und nach ihm ziehen weitere oder
engere Kreise darum, oft mit viel Grazie, immer mit viel Selbst-
gefühl. All das war stets so, die Wiederkehr des Gleichen kommt
einem in den Sinn, wenn man analoge Bestrebungen im (3. oder im
(7. Iahrhundert tätig sieht. Die Spielereien der Binnenreime, die
Tüfteleien mit Assonanz und Alliteration, die heute so wichtig ge-
nommen werden, haben die Epigonen der mittelhochdeutschen Lyriker
und haben zahlreiche Poeten der Opitzischen Zeit beschäftigt. Die

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