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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,3.1910

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Heft 16 (2. Maiheft 1910)
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Lose Blätter
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9021#0288
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Allgemeineres

Arm in Arm gingen sie zu dem Platz znrnck, den Lili ihnen an-
geboten hatte, — warm und dankbar. Sie trafen Lili mit dem Kavalle-
rieleutnant zusammen, sie in ihrer Äppigkeit fast verkommen, er korrekt
und ehrcrbietig wie immer. — Nicht lange danach war Kallem in Aber-
zieher, Seehundsstiefeln, die Hände tief in den großen Taschen vergraben,
wieder draußen im Schneegestöber.

Entweder hätten die beiden Geschwister jetzt allein sein müssen, oder
er mußte gehen. So griff es ihn zu sehr an. Er hielt unendlich viel
von ihr, und sie vielleicht noch mehr von ihm. In solchen Augcnblicken,
da ihr Wesen in seines überglitt, gestaltete es sich, wie es wollte und
kannte; für gewöhnlich hielt etwas sie gebunden. . . .

Rundschau

Bei Gelegenheit der Ko-
meten

>,jnsre Astronomen belehren uns,
^l-daß ein Komet etwas ist, das
nicht nur fern am Himmel vor
sich geht. Es ist dasselbe, das
wir in allen klaren Nächten sehen
— fallende Sterne, Meteore. An-
sammlungen davon sind Kometen.
Manchmal geraten wir in einen
hinein, dann regnet es Sterne die
Nacht durch.

Noch Sonderbareres lehrt man
uns vom Kometenschweif. Er ist
nicht nur kein feuriges Schwert noch
eine Feuerrute — er ist über-
haupt nichts Festes, das morgen
dasselbe ist wie heute. Nähert
sich ein Komet der Sonne, so schcidet
er Gase aus, die hinter ihm zurück-
bleiben, eine Art Dampfsäule wie
aus den Schornsteinen der Loko-
motiven! Etwas also, das immer-
fort neu entsteht.

Diese Auflösung fester Gestalten
ist charakteristisch für unsre mo-
derne Wissenschaft, und in solchen
Fällen, wo wie hier die Auflösung
selbst wieder eine Gestalt ergibt,
auch abgesehen vom spezifisch
wissenschaftlichen Wert, crfreulich
genug.

Der Breithut von Wolken, den
der Brocken auf hat, ist nicht eine
dort sozusagen stationierte Wolke.

Schon Goethe interessierte das
Problem dieser Gebirgswolken. Er
meinte, er könne es nicht lösen,
aber es käme ihm wie eine Art
Vision, daß es irgendwie mit der
Anziehung der Erde zn tun habe.
Ietzt hören wir, daß der Wind, der
über die Berge streicht, diese Wol-
ken bildet. Führt er nämlich
Wasserdampf mit sich — und das
wird er meist tun —, so wird dieser
Dampf beim Hinaufklettern auf die
Berge in der kälter wcrdenden Luft
sichtbar wie der feuchte Atem
unsres Muirdes im Winterfrost;
jenseits aber beim Wiederabgleiten
in wärmere Schichten löst er sich
wieder auf. So ist der Wolken-
hut etwas, das, während wir es be°
trachten, unanfhörlich vergeht und
neu entsteht, nicht unähnlich jenem
Balken aus Staub, der sichtbar
wird, wenn die Sonne durch einc
umgrenzte Sffnung scheint.

Ieder Mensch ausgeprägten Cha-
rakters habe seine typischen Schick-
sale, die ihm immer von neuem
zustoßen, meinte Nietzsche. Es bildet
sich um ihn her eine Gestalt, die
wir sein Schicksal nennen, immer-
fort ueu entstehend, immerfort ver-
gehend wie Kometenschweif, Wol-
kenhut oder Sonuenbalken und
trotzdem sichtbar wie jene, eine
Wetterwolke um sein Haupt her.

238 Kunstwart XXIII, s6
 
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