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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,3.1910

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Heft 15 (1. Maiheft 1910)
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Lose Blätter
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9021#0217
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Der nächste Morgen fing schlecht an, wie das an Festtagen üblich
ist. Berta Heltberg öffnete die Morgenpost und fand in einer Zeit-
schrift einen Artikel ihres Sohnes Ludwig abgedruckt unter dem Titel
„Götzendienst".

Liebende Menschen pflegten derartige Aufsätze anonhm zuzusenden.

„ . . . Die großen Männer, zu denen die Menge andächtig empor-
blickt, sind nie so sehr verschieden gewesen von den Durchschnittsmenschen
ihrer Zeit, die sie verstanden und verehrten. Neben der unerläßlichen
Begabung war stets der wichtigste Faktor ihrer Größe eine günstige
Existenzbedingung. Schule und Familie heißen die großen Gleichmacher,
die Hauptfeinde jeder geistigen Entwicklung. Der Terrorismus der Familie
zerstört auch die, denen der Zufall ein Schaffen ohne Geldnot ermöglicht
hätte. . ."

Berta Heltberg wußte, auf wen sich der Satz vom Familienterrorismus
bezog. Sie klingelte:

„Ludwig soll zu mir herunterkommen."

Mit klopfcndem Herzen wartete sie; es war selbstverständlich, daß sie
so etwas in ihrem Hause nicht angehen ließ. Heute an seinem Geburts-
tag! Heute, da alles seiner Erinnerung galt!

Neben dem Frühstückstisch stand der Arbeitssessel ihres totcn Mannes,
mit einem Kranze frischen Lorbeers geschmückt. Sie streichelte die ab-
genützten Armstützen des Holzes und lächelte zärtlich.

Rundschau

Der Fall May und die
AusdruckskulLur

Gericht, das im Prozeß May
2^gegen Lebius zu sprechen hatte,
hat für all die Beschuldigungen
gegen Mah, deren wir im s. Fe-
bruarheft gedachten, die Wahrheit
als bewiesen erachtet und Lebius
freigesprochen. Es sind noch mehr
und moralisch ebenso verwerfliche
Dinge zur Sprache gekommen, die
sich weit über Mays früheres
Schwindlcr-, Dicb- und Einbrecher-
Dasein aus seinen Zuchthauszeiten
bis in dicjenigen Iahre erstrecken,
da er als „Weltreisender", „Sprach-
gelehrtcr", „Ehrendoktor" eigner
Promotion und vor allem als sitt-
licher und religiöser „Erzieher"
unsrcs Volkes gefeiert wurde. Wir
haben den Schmutz nicht ohne drin-
gende Not auf diese Blätter zu
tragen. Die amtliche Kennzeichnung
Mahs durch den Dresdner Polizei-

präsidenten lautete klipp und klar:
„Litcrarischer Hochstapler und
gefährlicher Verbrecher."

Was uns nach diesem Ergebnis
interessiert, sind drei Fragen, die
im Kerne nur eine sind. Wie war
es möglich, daß solch ein Mann
jahrzehntelang einer der gelesensten
Literaten in Deutschland ward?
Wie, daß er in den sozial hoch- und
höchstgestellten Kreisen unsrer Ge°
sellschaft bis zu mehreren Prinzen
und Prinzessinnen hin als lieber
Gast verkehrte? Bor allem, wie, daß
er auch gescheite und studierte Leute,
Geistliche beider Konfessionen usw.
zu einer so glühenden Bewunde-
rung hinriß, daß sie immer wieder
mit ehrlicher sittlicher Begeisterung
die ethische, ja religiöse Größe die-
ses „Erziehers" priesen? Es ist zum
Halbtotschämen für unser Volk, und
man möchte am liebsten nicht davon
reden. Muß es aber, unterließe

s. Maiheft WO

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