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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,3.1910

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Heft 14 (2. Aprilheft 1910)
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Göhler, Georg: Wie gründet und leitet man Chorgesangvereine?
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https://doi.org/10.11588/diglit.9021#0109
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Wie gründet und leitet man Chorgesangvereine?

die sich mit der musikalischen Kultur unsres Volkes be°
I schäftigen, sind sich wohl darüber einig, daß Selbsttätigkeit,
^^Mitwirken die beste Gewähr dafür bietet, daß die Musik dem
Volke nicht äußerliche Zerstreuung oder oberflächliche Mode werde,
sondern mit seinem ganzen Innenleben in Zusammenhang bleibe.

Darum dringen sie darauf, daß man zunächst dem Schulgesang--
unterricht die Stellung einräume und die Wichtigkeit beimesse, die
ihm für die Entwicklung der kindlichen Psyche zukommt, und darum
fordern sie, daß man auf dem in der Schule gelegten, jetzt schon
vielfach sehr guten Grunde weiterbaue.

Diese zweite Forderung nachdrücklicher zu erheben, ist eine wichtige
Pflicht aller derer, denen wirklich die musikalische Kultur des Volkes
am Herzen liegt. Es gibt ja so viele Menschen, die als Kinder in
der Schule mit Lust und Liebe sehr gut gesungen haben, aber dann
aus Mangel an Äbung immer mehr alles verlernen und verlieren,
was ihnen die Schule gegeben hatte.

Die wichtigste Aufgabe hat hier das Haus, die Familie. Den
häuslichen Gesang richtig zu pflegen, ist eine der dankbarsten Auf-
gaben, die nur leider oft ganz falsch angefaßt wird. In kleinen
Städten zwar und auf dem Lande singt man vielfach nicht nur auf
der Stube, sondern im Garten, vorm Hause, darf auch auf der Straße
singen und läßt die Volkslieder, die anderswo nur im Schranke
toter Erinnerungen aufbewahrt werden, wirklich aufleben, wenn die
eigene Stimmung oder die draußen in der Natur dazu drängt. So°
bald aber der ganze Zuschnitt des Lebens nur einigermaßen „feiner",
„gebildeter", „großstädtischer", deutsch gesprochen: unnatürlicher, heuch-
lerischer wird, bekommt die Gesangpflege im Haus leider sehr häufig
einen üblen Anstrich. Man singt nicht mehr schlicht und natürlich,
wie man's als Kind tat, man singt nicht mehr gemeinsam die dem
geistigen und dem Gesühlsleben angepaßten schlichten Lieder, sondern
man nimmt, häufig bei einer dazu möglichst ungeeigneten Persönlich--
keit, Singstunden und bemüht sich, möglichst schön, das heißt geziert,
auszusprechen und möglichst künstlerisch, das heißt verschroben, zu
singen. Es gibt viele Zehntausende, die in dieser Weise aus gesell-
schaftlichen Gründen, besonders in den deutschen Klein- und Mittel-
städten und in den mittleren Gesellschaftskreisen der Großstädte, sich
alle Natürlichkeit des musikalischen Ausdrucks gründlich abzüchten.

Ist dies hauptsächlich bei dem weiblichen Teil der Bevölkerung
der Fehler, so ist's bei dem männlichen vielfach die einseitige Pflege
des Männergesangs. So schön dieser ist, und so schön guter,
schlichter Sologesang im Hause ist, der keine Eitelkeit und Nn°
natur in sich birgt: ihre Ergänzung brauchen beide in einer möglichst
regen Pflege des gemischten Chorgesangs. Auf diesem Gebiete läßt
sich am leichtesten und dauerndsten das erreichen, was bei aller Kunst-
Pflege das Wesentlichste ist: daß nämlich der Zusammenhang zwischen
Kunst und Leben immer enger wird, daß die intensive Beschäftigung
mit den besten Kunstwerken das Gefühlsleben anregt, bereichert, ver-
tieft.

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