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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,3.1910

DOI Heft:
Heft 15 (1. Maiheft 1910)
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Riedner, Wolfgang: Vom Hahnengeschrei
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https://doi.org/10.11588/diglit.9021#0187
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Iahrg.23 Erstcs Maiheft lSIO Hest 15

Vom Hahnongeschrei

^^m ersten Märzheft des Kunsti rts ist schon vom Gockelgeschrei die
^ t Rede gewesen. Aber die Sache, um die sich's da handelt, ist nicht an
^Isich, wohl aber als Symptom so wichtig, daß wir sie bei dieser
schönen Gelegenheit ein bißchen näher anschauen möchten.

Bei jeglicher Witterung, bei Tag und Nacht, weht ein gewisser
Westwind über unsre Grenze herein, bis nach Berlin und noch weiter.
Diese meteorologische Eigentümlichkeit ist so alt, daß mancher sie tag--
täglich fühlt, ohne dranzudenken, und manch andrer überzeugt ist,
sie sei schon längst nicht mehr wahr. Es hat also nicht mehr den Vorzug
der Neuheit, doch immer wieder die Notwendigkeit für sich, wenn fest-
gestellt wird: vom Seinestrand her kommt unaufgehalten noch immer
der alte wohlparfümierte und zuweilen etwas fieberige Hauch, und
immer noch klingt es aus seinem Wehen herüber wie Hahnenschrei.

Neuerdings war gar der echte Schrei des gallischen Hahnes selber
oftmals deutlich herauszuhören. Was hat er unter dem stolzen Namen
„Chantecler" nicht alles uns ins Ohr gekräht! Neuigkeit über
Neuigkeit: Rostand, der erzgallische Dichter, träumt ein großartiges,
klassisches nationales Hahnendrama — Rostand arbeitet daran —
Rostand erholt sich — Rostand dichtet weiter — es wird ein wahr-
haftiges Tierstück — die und die Bühne und dieser und jener Bühnen-
stern sollen die Ehre der Nrdarstellung haben — Kostümzauber —
die Ilraufführung dann und dann — nein, dann und dann —
nein, andre Darsteller — Verschiebung — Verlegung und so fort bis
zu den höchst ausführlichen Drahtberichten der gesamten deutschen
Tagespresse über die Generalprobe und über die öffentliche Premiere
zu Paris, bis zu den reich illustrierten Sonderartikeln der deutschen
Bilderpresse, bis zur Verkündung unsrer lieben Modegeschäfte, die
„Chantecler"-Hüte — kaute nouvsaukö cksruior ori! — seien in ent-
zückender Auswahl eingetroffen.

Mit einem Wort: es war ein Mordsrummel größten Stils. Nnd
betrachtet man nun danach das zeitaufwühlende Werk in der Nähe
— so staunt der Laie. Ein meteorologisches Wunder: so viel Wind
und keine Atmosphäre! Nnd wirklich eine Hahnentragödie: so viel
Kikerili (pardon: Cocorico) und kein Leben!

Französische Schauspieler haben den „Chantecler" neuerdings in
Wien vorgeführt. Gesiebte Kennerschaft und der parisbegeisterte Sno-
bismus bildeten das Publikum. Nnd dieses Publikum verließ das
Theater fluchtartig — nicht aus übermäßiger tragischer Erschütterung,
sondern aus tiefgründiger, unüberwindlicher, ungeheurer Langeweile.
Nnd die der Franzosenfeindschaft doch wirklich unverdächtige Wiener
Kritik stellte in Eintracht fest, daß „Chantecler" zwar kein Treffschuß
ersten Ranges, aber ein Versager ersten Ranges sei. König Eduard,
der in einer Pariser Aufführung des Hahnenstücks einschlief, ist durch
das Wiener Ergebnis glänzend gcrechtfertigt: die erste Vorstellung
vor einem nichtfranzösischen Publikum, von der wir in Deutschland

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