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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,3.1910

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Heft 15 (1. Maiheft 1910)
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Riedner, Wolfgang: Vom Hahnengeschrei
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https://doi.org/10.11588/diglit.9021#0188
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erfahren, brachte ein Fiasko von leuchtender Klarheit. Ein Fiasko
auch für die Snobs in Wien und fonstwo in deutsch redenden Landen.

Fast zur felben Stunde wurde das Urteil durch einen „Chantecler"--
Abend in Berlin bestätigt. Der vielgewandte Franzose Marc Henry
gab in der Singakademie eine beredte Erläuterung des Gedichts,
eine anschauliche Lrzählung des Inhalts und einen temperamentvollen
Vortrag einzelner Stellen, namentlich des tzauptreklamestückes, des
Lobgesangs auf die Sonne. Doch selbst dieser mindestens unparteiische
Mittelsmann mußte zugestehen, die Dichtung leide an verhängnisvoller
Äberladung mit spielerischem Wortprunk, sie könne gar nicht als Drama
anerkannt werden.

Nun möchte man ja meinen, der tzahn im Westen habe (für dies-
mal!) ausgekräht. Schon der schwache Besuch des Berliner „Chantecler"--
Abends könnte auf einen Rückschlag schließen lassen. Bloß, daß diese
an sich erfreuliche Erscheinung wohl lediglich aus der gerade angelangten
Kunde von dem Durchfall zu Wien erklärt werden muß; was im
Grund nur eine neue Nnselbständigkeit, nur Bequemlichkeit beweist.
Im übrigen sind die größeren deutschen Theaterstädte auch jetzt noch
keineswegs vor den Schrecken einer verdeutschten „Chantecler"-Vor-
stellung geschützt. Stark begehrte Modesachen vom französischen
Nouveautos-Markt pflegen von den deutschen „Robes"-, „Modes"-
und Theatergeschäften gar frühzeitig erworben zu werden. Nnd die
angeschaffte Ware muß wieder an den Mann gebracht werden; wenn
auch bei der Bühnenware schließlich nur je eine einzelne Abendein-
nahme erzielt werden sollte.

Einem völlig unbefangenen Beobachter muß es ein unbegreiflicher
Vorgang sein: ein streng französisch-national empfundenes und ge-
dachtes Theaterstück, dessen dramatischer Wert von vornherein höchst
fragwürdig war, sollte mit allen Mitteln auch nach Deutschland her-
übergezogen werden, woselbst man für eigennationale Kunst herzlich
wenig Empfänglichkeit aufbringt und der beredt-mittelmäßigen Form-
talente übergenug zur HanL hat. Ilnd mehr als Formtalente:
eine Nationaldichtung von so namenlosem Reichtum, daß sie in
der Regel eine neueste, allerneueste Probe französischer Formbegabung
auf dauerhaftere Dichterweise schon lange vorweggenommen hat.

Ein Reichtum ist's, der fürs deutsche Volk noch bei weitem nicht aus-
gemünzt wurde. Wer liest beispielsweise den „Reineke Fuchs" in der
hochdeutschen Fassung durch Goethe? Wer die liebenswürdige „Mai-
käferkomödie" I. V. Widmanns? Wer kennt die herrlichen deutscheu
Verse auf das Erwachen des Sonnenlichts:

„Horchet! horcht dem Sturm der Horen!

Tönend wird für Geistesohren
Schon der neue Tag geboren.

Felsentore knarren rasselnd,

Phöbus' Näder rollen prasselnd;

Welch Getöse bringt das Licht!

Es drommetet und posaunet,

Auge blinzt und Ohr erstaunet;

Änerhörtes hört sich nicht ..."

(5H Kunstwart XXIII, (5
 
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