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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,3.1910

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Heft 18 (2. Juniheft 1910)
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Lose Blätter
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9021#0464
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Literatur

Leute. Auf die Frage, wie weit ich noch zum uächsten Ort habe, erhielt
ich die Antwort: „8arukn iuouki-L Linquub mixlisb", welches jeder ohne
Noten verstehen wird.

Diese Aacht blieb ich in einem kleinen Orte, der, glaube ich, Giumar-
rinese hieß und noch achtzehn Millien von Messina entfernt ist. Ein
Seebad nach einem ziemlich warmen Tage tat mir recht wohl, und die
frischen Sardellen gleich aus der See waren nachher ein ganz gutes
Gericht. Man tut sich hier darauf etwas zugute und behauptet mit Recht,
daß man sie in Palermo nicht so schön haben kann. Einige Millien von
Messina fand ich wieder Fuhrgeleise, welches mir eine wahre Wohltat
war; denn seit Agrigent hatte ich keinen Wagen gesehen. In Shrakus
kann man nur eine Viertelstunde an der See, bis an ein Kloster vor
der Stadt und bis in die Gegend des Anapus fahren, und Line geistliche
Sänfte, von Mauleseln getragen, die ich in den Bergschluchten zwischen
Lentini und Augusta antraf, war alles, was ich einem Fuhrwerk Ähnliches
gefundeu hatte.

Nundschau

„Retselektüre"

--^er Zug ist abgedampft, die
^Bahnhofhalle mit ihrem Däm-
mer, das Bahnhofgefilde mit seinem
Schienengewirr liegt hinter uns,
nun auch die letzte Straße der
Stadt — richtig, da hält mein
Gegenüber auch schon das Tageblatt
vor die Nase, oder, ist er ein
Feiner, so zieht er aus der Reise-
tasche irgendein Buch. Denn so
sind wir: wo's was zu sehn gibt,
das nicht gedruckt ist, da halten
wir schnell gedrucktes Papier da-
vor. Lerne zu sehn, und jcde
Viertelstunde bringt dir selbst-
erschautes, selbsterlebtes Gut, schmö-
kere, wenn du Zeit zum Sehen
HLttest, und du lernst das Sehen
dein Leben lang nicht. Das ist's,
weshalb unsereinen leicht ein Furor
über alle Reiselektüre erfaßt. Bei
welcher Gelcgenheit wir danu das
Kind mit dem Bade ausschütten.

Weg mit aller Reiselektüre, wo
Himmel oder Erde, die Landschaft,
die Tiere, die Pflanze, die Stadt,
der Raum, die Menschen um dich
auch nur irgend etwas sagen, und
das tun sie zum mindesten fast

immer, wo du sie nicht schon
Dutzende von Malen gesehen hast.
Selbst Herr Schultze und Frau
Müller, die mit dir fahren, wer-
den dir zumeist irgend etwas zu
sehn oder zu hören geben, was du
der Beobachtung selbst ent-
nimmst. Eben dieses Selbst-
entnehmeu bringt, wenn weiter
nichts, so doch Äbung, die dir kein
Lesetc ersetzen kann. Und alle
uusre Kultur muß ja dahin stre-
ben, uns nach Menschenmöglich-
keit vom mittelbaren Nachleben
im Gespiegelten zum unmittelbaren
Mitleben mit dem Seienden zu
führeu, sonst werden gar wir selber
am Ende noch von der Haut bis zum
Herzeu zu Papier. Trotzdem aber
gibt es, auch von dem, was man
leidcr lesen muß, abgcsehn, doch wohl
immer noch zweierlei Reiselektüre,
wegen deren auch die bis zur
Selbstpeinigung Gewisseuhaften
unter uns sich nicht die mindesten
Dorwürfe machen können: die
„Notlektüre" und die „Feierlcktüre".

„Notlektüre" neune ich solche,
die uns aus unerquicklicher und
unerspricßlicher Umgebung retten

38§

Kunstwart XXIII, f8
 
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