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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,3.1910

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Heft 16 (2. Maiheft 1910)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9021#0289
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Und was ist Charakter und Geist
der Menschen selbst? Ist er etwas
andres als ein immerwährendes
Entstehen und Vergehen von Ge°
danken, Entschlüssen, Gefühlen nnd
Selbstdurchsetzungen? Ein Gesetz
der Verdichtung und Sichtbar-
machung des Geistmaterials, das
wie das Kristallisieren der Steine
immerfort in bestimmten Gestal-
ten und Formen erscheint?

Und der Leib? Wie tolpätschig
patschte doch seinerzeit der Ma-
terialismus durch diese Probleme,
der den Leib für das Feste nahm,
nur weil er langsamer ist. Denn
auch er entsteht und vergeht von
Stunde zu Stunde, und wenn die
Gesetze dieses Wirbels im Strom
freilich unendlich verwickelter sind
als die des Wolkenhutes oder Ko-
metenschweifs, so doch keineswegs
als die des menschlichen Geistes.

Alles fließt. Selbst die feste
Erdc unter uns ist ein langsames
Gleiten vom Gebirge zum Meer.
Da oben in den Bergen löste sich
los, was in langen Verwandlun-
gen Ackererde wurde, bis es in
den langen Zeitläuften weitergespült
wird.

Alles fließt und strömt — es ist
wahr. Aber es ist keineswegs eine
so wehmütige Wahrheit, als man
gewöhnlich annimmt. Denn gerade
im Strom und Wandel und durch
ihn bildet sich die leuchtende Gestalt.
Denn auch das Meteor ist dumpfer
Stein: indem cr die Atmosphäre
durcheilt, flammt er in der Rei-
bung auf und wird — ein Stern.

Bonus

Hebel

er Verfasser dieser Gedichte, die
in cinem oberdeutschen Dia-
lekt geschrieben sind, ist im Begriff,
sich einen eignen Platz auf dem
deutschen Parnaß zu erwerben. Sein
Talent neigt sich gegen zwei ent-

gegengesetzte Seiten. An der einen
beobachtet er mit frischem, frohen
Blick die Gegenstände der Natur,
die in einem festen Dasein, Wachs-
tum und Bewegung ihr Leben aus-
sprechen und die wir gewöhnlich
leblos zu nennen pflegen, und
nähert sich der beschreibenden
Poesie; doch weiß er durch glück-
liche Personifikationen seine Dar-
stellungen auf eine höhere Stufe
der Kunst heraufzuheben. An der
andern Seite neigt er sich zum
Sittlich-Didaktischen und zum Alle-
gorischen; aber auch hier kommt
ihm jene Personifikation zu Hilfe,
und wie er dort für seine Körper
einen Geist fand, so findet er
hier für seine Geister einen Körper.
Dies gelingt ihm nicht durch-
aus; aber wo es ihm gelingt, sind
seine Arbeiten vortrefflich, und
nach unsrer Aberzeugung verdient
der größte Teil dieses Lob.

Wenn antike oder andre durch
plastischen Kunstgeschmack gebildete
Dichter das sogenannte Leblose
durch idcalische Figurcn beleben
und höhere, göttergleiche Naturen,
als Nhmphen, Triaden und Hama-
triaden, an die Stelle der Felsen,
Quellen, Bäume setzen, so verwan-
delt der Verfasser diese Naturgegen-
stände zu Landleuten und verbauert,
auf die naivste, anmutigste Weise,
durchaus das Universum, so daß die
Landschaft, in der man denn doch
den Landmann immer erblickt, mit
ihm in unsrer erhöhten und erhei-
terten Phantasie nur eins auszu-
machen scheint.

Das Lokal ist dem Dichter Lußerst
günstig. Er hält sich beson-
ders in dem Landwinkel auf, den
der bei Basel gegen Norden sich
wendende Rhein macht. Heiter-
keit des Himmels, Fruchtbarkeit
der Erde, Mannigfaltigkeit der Ge-
gend, Lebendigkeit des Wassers,
Behaglichkeit der Menschen, Ge-

2. Maiheft WO 23Y

Literatrrr
 
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