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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,3.1910

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Heft 13 (1. Aprilheft 1910)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.9021#0029
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gezogen. Durch ihm droheude Todesgefahr sieht sie sich gezwungeu, ihu
ats Herakliden zu verraten. Eine Volksbewegung spielt ihn als Gegen-
könig gegen Nabis aus; auch Dyme, des letzten Herakliden Orestes Weib,
erkennt ihn aus Rachelust als ihren — in Wirklichkeit vor chren eigenen
Augen getöteten — Sohn an. Er siegt und gewinnt den Thron. Mit
dem Augenblick aber, der ihn zum Herrscher macht, fallen jugendliche
Ideale seinem neuen Pflichtbewußtsein zum Opfer. Er vereinsamt an
der Seite einer ihm fremden Gattin, Nabis' Tochter Komaetho, welcher
seine Geliebte, Kallirhoe, freiwillig gewichen ist. Bald brechcn neue Vürger-
kämpfe aus; seine Abkunft, die er selbst nicht kennt, wird in Frage gestellt
und er selbst wird bis zur letzten Prüfung im Palast gefangengesetzt.
Die unerhörte Schmach wird noch überboten dadurch, daß er seine wahre
Herkunft endlich erfährt. Im letzten Akt verrät er endlich sich selbst,
halb freiwillig, halb gezwungen, und wird ermordet. Was Natur und
Amstände notwendig gestalteten, was als Glück und Anfang einer besseren
Zeit erschien, das führt so zum Chaos und Untergang. Die wirksame
Tragik des „sich selbst setzenden Konfliktes" ist damit fehllos offenbart.
And Ernst hat mit anerkennenswertem Geschick die realistischen llnwahr-
scheinlichkeiten der Handlung poetisch glaubhaft zu machen, den Charakter
der Notwendigkeit herauszuarbeiten versucht. Daß er dabei nahe an
eine fatalistische Geisteshaltung, an eine scheinbar naturnotwendige Er-
gebung in die Machtwirkung des sich selbst setzenden Konsliktes streift,
ist nur zu erklärlich. —

Gerade diese Geisteshaltung scheint Paul Ernst aber auch sonst nicht
fremd zu sein. Er erzählt als Prosaiker, als welcher er nicht miuder
bewußt zu Werke geht denn als Dramatiker, seine kleinen Novellen und
Erzählungen häufig ohne irgendwie zu den Geschehnissen Stellung zu
nehmen. „Wie es denn zu geschehen pflegt ....", diese Worte drücken
ein Stück von Lrnsts Stimmung aus. „And es geschah, daß. . .", mit
diesen gewinnt er nur allzuoft den Fortgang. Gewollte Kindlichkeit aber,
die von dem tieferen Sinn der Geschichte gar nichts zu versteheu vorgibt,
wirkt auf die Dauer als eine intellektuelle Unaufrichtigkeit. Ie eleganter
die Diktion, je flüssiger der Stil, um so peinigender wird dieser Eindruck.
Nur die gelegentlich entzückende (nicht machtvolle oder untergründig-
tiefe) Anschaulichkeit der Schilderung wird darüber Herr. And nur
selten (am meisten vielleicht in der Geschichte „Papcdöne") zieht der
Drang der Ereignisse in seiner scheinbaren Schicksalsnotwendigkeit ganz
in seinen Bann. So steht diese Erzählkunst in einem seltsamen Verhält-
nis zum Leben. Hier offenbart sie eine feine Beobachtergabe, ein wcich-
gcstimmtes Gemüt und heiterc Beschaulichkeit, dort vcrgewaltigt eine mark-
lose Phantasie die Bausteine zu einem übelfundamentiertcn Gebäude,
das in sich selbst nicht stehen könnte: sie kann das Spiel unsrer Vor-
stellungen, aber kaum unser Menschendasein bereichern.

Ernst hat in seinem „Weg zur Form" einc heftige Abneigung gegen
den modernen Psychologismus bekundet. Er versucht, das Seelische aus
dcn Handlungen und ganz sparsamen Andeutungen gleichsam erraten
zu lassen und verspricht sich von dieser Methode eine uach dem Prinzip
des kleinsten Kraftmaßes größere Wirkung, als sie „Naturalisten" je übcn
könnten. Aber mir persönlich scheint durch seine Dichtungen bcwiesen,
daß selbst unter seinen Voraussetzungen die einfache Folge von Begeben-

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