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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,3.1910

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Heft 13 (1. Aprilheft 1910)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9021#0050
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Gießt mir des lieben Lichtes
Die müde Seele voll,

Wenn hellen Angesichtes
Den Tag ich grüßen soll."

Vielleicht veranlassen diese Verse
einen Dichter, der sie zu Gesichte be-
kommt, den Müttern, die es wün-
schen, schönere dafür zu schenken!

Einstweilen betet der Kleine
sie voll Freuden jede Nacht,
von dcr Höhe seines Abcndfriedens
den vergangenen Tag mit stillcn
Augen überschauend und richtend.
Er zeigt seitdcm deutlich in seinem
Benehmen mehr Selbstbeherrschung
und Nücksicht; die Mutter steht ihm
näher und kann mehr auf ihn wirken.
Die Viertelstunde stillen Insich- und
Beisammenseins mag er um keinen
Preis mehr entbehren. Vor kurzem
kam er mit der Bitte um ein Mor-
genlied, das zum Glück nicht ge-
dichtet zu wcrdcn brauchte, weil
mau eines bei Gottfried Keller fand.
Mit dem Verstande wird er's frei-
lich kaum schon gauz verstehen, wenn
er betet:

„Solang uoch Morgenwinde
Voran der Sonne wehn,

Wird nie der Freiheit Fechterschar
In Nacht und Schlaf vergehn."

Und doch verrät der Ton, in dem
cr bctet, den innigsten Willen, der-
einst selber dieser morgenfrohen
Fechterschar anzugehören!

Solcher Augenblicke der Andacht,
in denen sie sich selber und alles
Liebe, Schöne, Große empfinden,
das ihnen je nahegekommen, solch
erhöhter Augenblicke des Lebens be-
darf unsre Iugend. Tausende von
Menschen vermochten und vermögen
sie aus einer der Neligionen zu
schöpfen, die in festen Formcn ver-
körpert sind — wo noch der Gehalt
in der Form ist, da steht es ja gut.
Aber tausend andern Menschen ist
dieser Quell versiegt. Sie aber
mögen sich hüten, Kelche, denen sie

keinen Inhalt mehr zu geben ver-
mögen, mit täuschender Gebärde
ihren durstigen Kindern zu bieten!
Diese zwar tun meist, als ob man
ihnen wirklich zu trinken gäbe. Sie
meinen, man müsse so tun — und
nehmen dabei Schaden an der Echt-
heit ihres Wesens. Lieber schaffe
man ihnen neue Gefäße nach ncuen
Vedürfnissen — aber Gehalt,
Gehalt der Empfindung muß hin-
ein, wenn wir damit unsre Kinder
zum Leben wecken wollen.

Hedwig Bleuler-Waser
2. Der Traum als Spiegel

Was der zwölfjährige Knabe mir
erzählte, als er mit heißen Wangen
aus dem Bett sprang, in dem er
sich in der letztcn Minute unruhig
hin und her gewälzt hatte, das will
ich hicr aufschreiben.

Wie Kinder mit dem Religions-
unterricht fertig werden, ist sehr ver-
schieden. Zuweilen nehmen sic ihn
kritiklos hin, wie alles andre, was
man ihnen gibt, zuweilcn entzündet
sich der Idealismus ihrer Seelc
daran. Sic wollcn die Brücke schla-
gen zwischcn Ideal und Wirklich-
keit und zerstoßen ihre jungen Her-
zen an jener unüberbrückbaren Kluft
zwischen beiden, die für den An-
hängcr der altcn, asiatischen Reli-
gionen bei uns Luropäern so sicht-
bar ist, daß nur ihr Auswurf sich
zum Lhristentume drängt.

Dcr Knabe sprach:

„Es war entsetzlich, furchtbar war
es! Ich war gestorben uud sollte
vor Gericht. Plötzlich war ich in
einem Korridor mit verschicdcnen
Türen. Iemand hatte mir aufge-
macht, dcr hatte einen haarigen,
nackten Oberkörper und ein brcites
Gesicht und zwei Augen, die warcn
ganz voll Gift. Gleich als ich ihn
sah, dachte ich: Das ist Iudas
Ischariot! Aber er sagte, er sei
Petrus, der Hiinmelsdiener, und ich
solle nur hereinkommen, dcr liebe

Kunstwart XXIII, 13
 
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