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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,3.1910

DOI Heft:
Heft 15 (1. Maiheft 1910)
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Riedner, Wolfgang: Vom Hahnengeschrei
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https://doi.org/10.11588/diglit.9021#0191
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ihrer Geschlossenheit und Selbstsicherheit diene sie unsrem allzu weithin
zerfließenden Kulturstreben sogar als Vorbild. Doch muß in Deutsch-
land ein redlicher Kulturwart immer und immer wieder die Stimme
erheben und die Landsleute erinnern: nirgends ist für die deutsche
Seele so blutwenig zu holen wie in der französischen Dichtung. Durch
rückhaltlose Hingabe an die Kultur der Oberfläche haben die Fran-
zosen Meisterliches erreicht. Für unsre Oberflächenkultur lönnen wir
davon hier und dort noch immer lernen; und ihre erotische Ober-
flächenkultur, ihr Kunstgewerbe des Ehebruchschwankes zum Beispiel,
scheinen ja ziemlich viele von uns nicht entbehren zu können. Ie ernster
aber moderne französksche Dichtung zu werden sucht, desto ruhiger
dürfen wir annehmen, daß sie Fremdstoff oder Rhetorik bleibt, die
uns gar nichts angehen, oder aber wirkliche Poesie wird, die wir in
gleich guter oder besserer Qualität bereits in unsren Schatzkammern
haben. Ausnahmen sollen uns willkommen sein; nur muß der Be-
weis, daß Werte von ausnahmemäßiger Höhe erschienen seien, jedes-
mal erst ohne alle Äberstürzung durchgeführt sein.

Mit der Franzosennachäffung, die vielen Durchschnittsdeutschen und
erst recht den hauptstädtischen Kunstsnobs erbeigentümlich ist, verbindet
sich die gesinnungs- und kritiklose Iagd nach dem „Aktuellen", die
von den allermeisten Tageszeitungen eifrigst betrieben wird. Was
offenbar nur darum geschieht, weil vorausgesetzt wird, daß das Publi-
kum ewiglich vor allem nach dem begehrt, was die Gunst der Augen-
blicksmode für sich hat. Wenn es also gelänge, den Stoffbereich zu
verengern, der für „maßgebende" Tagesmoden, für Aktualitäten in
Betracht kommt, so wäre Raum gewonnen für wichtigere, nützlichere,
dauerhaftere Dinge. Die Grundlosigkeit der Französelei immer wieder
zeigen, heißt daher, nicht bloß das Nationalbewußtsein aufklären,
sondern auch allgemeiner die Kulturtagesarbeit fördern.

Es mag menschlich recht begreiflich sein, wenn Telegrammgeschäfte oder
deutsche Reporter an der Seine möglichst viele örtliche Ereignisse von
Paris zu verwerten suchen. Daß aber die deutschen Zeitungsleiter solche
Betriebsamkeit nicht gründlich zu hemmen imstande sind, das ist bedauer-
lich. Bei diesem unsterblich sein wollenden Unfug ist der Haupttäter aus-
nehmend leicht zu fassen: auf die Presse kommt alles an! Der Hahn
im Westen kräht ja nicht nur herüber, wenn er sich Chantecler nennt.
Alle Tage kräht er, unü alle Tage beeilt sich die Tagespresse, mög-
lichst geräuschvoll nachzukrähen, was ihr davon sensationell erscheint.

Wenn beispielsweise eine widerwärtig dirnenhafte Nussin mit Hilfe
von allerhand Männchen in Italien zur Mörderin wird, so will
das, scheint's, als Sensatiorr noch immer nicht genügen. Line Schau-
spielerin hat die Unverfrorenheit, zur Gerichtsverhandlung nach Ita-
lien zu fahren, um „Studien zu machen". Aber es ist eine Pariser
Schauspielerin. Deutsche Zeitungen unterstützen diesen Reklamezug
nach Kräften. Sie bringen spaltenlange Drahtberichte über die Ein-
drücke und Schlüsse der Dame. Wenn eine deutsche Künstlerin so
fürwitzig eine Sammlung so nichtssagend-sentimentaler Redensarten
an die Offentlichkeit bringen wollte, würde sich dann ein französisches
Blatt zum Verbreiter hergeben? Wahrscheinlich, just da eine Deutschr
redete, nicht einmal ein deutsches.

l- Maiheft >9!0 s57
 
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