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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,3.1910

DOI Heft:
Heft 16 (2. Maiheft 1910)
DOI Artikel:
Nidden, Ezard: Björnstjerne Björnson
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https://doi.org/10.11588/diglit.9021#0276
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„Nun gibt es nichts Peinlicheres als einen mißlungenen Versöhnungs-
versuch. Man ging von Tisch, ohne einander in die Augen sehen oder
gar sich gesegnete Mahlzeit wünschen zn können. In der Wohnstube
wnrde es schließlich so schwül, daß alle drei gern hinausgegangen wären;
aber niemand mochte den Anfang machen. — Petra ihrerseits fühlte, daß,
wenn sie jetzt ginge, es für immer sei. Sie konnte Signe nicht wieder-
sehen, wenn sie sie nicht liebhaben durfte; sie konnte es nicht ertragen,
den Propst um ihretwillen traurig zu sehen. Aber mußte sie wirklich
fort, dann ohne Abschied: — wie hätte sie von diesen Menschen Abschied
nehmen können? Schon der bloße Gedanke daran versetzte sie in eine
solche Aufregung, daß sie sich nur mit äußerster Mühe zu beherrschen
vermochte.

Iede Minute macht solch drückende Stille, in der eins auf das andere
wartet, nur noch unerträglicher. Man wagt sich nicht zn rühren, weil
man fühlt, es wird bemerkt. Ieder Seufzer wird gehört; ja man hört
sogar, daß der andre ganz ruhig ist, denn man empfindet das als tzärte.
Man kommt in Spannung, weil kein Wort gesprochen wird; und doch
bebt man, daß etwas gesagt werden könnte.

Iedes fühlte, dieser Augenblick würde niemals wiederkehren.

Die Mauern, die man in solchen Minuten zwischen sich aufbaut,
wachsen, unsre eigne Schuld wächst, die Schuld der andern wächst, wächst
mit jedem Atemzug. Man ist bald verzweifelt, bald erbittert. Denn
wer sich so gegen uns benehmen kann, ist unbarmherzig, schlecht, das er-
tragen wir nicht, das verzeihen wir nicht."

So gestaltet Björnson tzöhepunkte und entscheidende Wand-
lungen mit machtvoller Äberlegenheit. Der Leser empfindet nicht
die leise Gebundenheit an den Fortgang, sondern mit elementarer
Gewalt dringt Björnsons Gestaltung auf ihn ein. Er ist dürchaus
der Künstler der großen Gebärde, der weiten Bogenspannung. Er
hat in seinen Romanen Stellen, wo die tzochspannung zweihundert
Seiten hindurch nicht nachläßt. Ich weiß dem letzten Drittel von
„Flaggen über Stadt und Hafen" oder dem Anfang von „Auf Gottes
Wegen" nichts Ähnliches an die Seite zu stellen, wenn es auf
unwiderstehliche, tiefe und reine Wirkung ankommt. Björnson darf
sich eine Naturschilderung von zwanzig oder dreißig Seiten erlauben,
ohne die Furcht, daß sie aus dem Rahmen falle: mit ein paar
Sätzen ist sie völlig in das Menschliche einbezogen, und plötzlich
instrumentiert er die Melodie mit den Klängen des Herzens —
eine gewaltige Steigerung, ein Fortissimo des ganzen Orchesters bringt
uns zu Bewußtsein, wie sehr das scheinbar allzu Selbständige nur
einleitender Akkord war. So ist seine Technik immer von heim-
lichem Äberreden getränkt. Seine Zwiegespräche sind meisterlich, von
vollendeter Kunst der Steigerung, des allmählichen Erschließens der
Tiefe, des mit allen Mitteln der Retardierung und Anhäufung
spannenden Einkreisens seiner Zuhörer. Findet er auch manchmal
nicht beizeiten das Ende, so hat er doch stets etwas zu sagen. Die
Fülle und Kraft seiner Natur strömt in alle Lücken ein. Nicht ohne
persönliche Vorliebe ist es zu erklären, daß Björnson Heldencharak-
tere häufiger als irgendein anderer gestaltete: er spiegelt seine eigene
Willensstärke. Ilnd nicht ohne persönliche Erfahrung erklärt sich

226 Kuustwart XXIII,
 
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