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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,3.1910

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Heft 16 (2. Maiheft 1910)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9021#0294
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nehmer werden mögen! Denn so
sehr zu wünschen ist, daß uns der
ganze deutsche Sprachschatz durch
ein allgemcines Wörterbuch möge
vorgelegt werden, so ist doch die
praktische Mitteilung durch Gedichte
und Schrift sehr viel schncller und
lebendig eingreifender.

Vielleicht könnte man sogar dem
Verfasser zu bedenken geben, daß
wie es für eine Nation ein Haupt-
schritt zur Kultur ist, wenn sie
fremde Werke in ihre Sprache
übersetzt, es ebenso ein Schritt
zur Kultur der einzelnen Provinz
sein muß, wenn man ihr Werke
derselben Nation in ihrem eig-
nen Dialekt zu lesen gibt. Versuche
doch der Verfasser aus dem so-
genannten Hochdeutschen schickliche
Gedichte in seinen oberrheinischen
Dialekt zu übcrsetzen! Haben doch
die Italiencr ihren »Tasso« in mch-
rere Dialekte übersetzt.

Nachdem wir nun die Zufrie-
denheit, die uns diese kleine
Sammlung gcwährt, nicht verber-
gen können, so wünschen wir nur
auch, daß jenes Hindernis einer
für das mittlere und niedre Deutsch-
land seltsamen Sprech- und Schreib-
art einigermaßen gehoben werden
möge, um der ganzen Nation diesen
erfreulichen Genuß zu verschaffcn.
Dazu gibt es verschiedene Mittel,
teils durch Vorlesen, teils durch
Annäherung an die gewohnte
Schreib- und Sprechweise, wenn
jemand von Geschmack das, was
ihm aus der Sammlung am besten
gcfällt, für seinen Kreis umzuschrei-
ben untcrnimmt — eiue kleine
Mühe, die in jcder Sozietät großen
Gewinn bringen wird/

IV

Wer mag der alte Herr sein,
der diese sorgfältige Charakteristik
so meisterhaft geschrieben hat? Wir
müssen wohl annehmen, manche
unsrer Leser wissen es nicht. Aber

er hieß Iohann Wolfgang Goethe.
Seine Bcsprechung erschien in der
„Ienaischen allgemeinen Literatur-
zeitung", gelegentlich der zweiten
Auflage der Alemannischen Ge-
dichte v. MH.

Aber nicht alle urteilten so über
Hebel. Nun, da einundeinhalbes
Iahrhundert scit seiner Geburt ver-
flossen sind, und er längst bis
in alle süddeutschen Dorfschulcn
hinein gesiegt hat, nun ist es uns
beinah, als hörtcn wir nicht recht,
wenn wir in alten Kritiken über
seine „Alemannischen Gedichte"
schelten hören. Was wir Heutigcn
als Muster des Volkstümlichen an-
zusehn Pflegen, das erschien damals
manchem bis auf wenige Stellen
ganz oder gar nicht als einwand-
frei volkstümlich. Ia, sagt noch
Wolfgang Menzel, das Volkstüm-
liche dringt wohl in manchen Ge-
dichtcn durch, und sogar mächtig,
„allein widerlich entstellt sind andre
durch Einmischung moderner, sen-
timentaler Gefühls- und Ausdrucks-
weiscn der gebildeten Welt, ja sogar
durch die Eiumischung dcs lohaleu
Beamtengeistes". „Seine Muse ist
eine Stadtdame im Kostüm einer
Schwarzwälder Bäuerin." Ist das
grundfalsch? Es ist Wahres daran!
Eine Menge der Beispiele, die
gerade Menzel zitiert, beweisen es.
Dialekt wirkt wie Volkstracht, ob
bei Hebel der süddentsche echt ist,
können zumal wir Norddeutschen
nicht glcich erkennen — so wird die
Illusion, es mit Volkstümlichem
zu tun zu haben, uns Norddeut-
schen leicht besonders stark, daß sie
vom Gcwand anf den Menschen
„überstrahlen" mag. Wohl, aber
die Süddeutschen, auch die fein-
sten Köpfe darunter, lieben ja ihren
Hebel auch. Ich meine: das Rät-
sel löst sich, wenn wir seine Kunst
nicht Volkskunst, sondern Heimat-
kunst nennen. Es ist nicht das

2H4 Kunstwart XXIII, f6
 
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