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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,3.1910

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Heft 17 (1. Juniheft 1910)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9021#0371
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für skeptisch haltenden philoso-
phierenden Philister an seiner
Gottähnlichkeit bange zu machen?
Noch sucht man dic Definition
der Philosophie; ich schlage hier-
mit eine, aus der allgemeinen
Praxis abgezogene vor: Philo-
sophie ist diejcnige Wissenschaft,
in der man ohne Talente, ohne
Vorkenntnisse nur von der Güte
seines Mundwerkes bedient, ein
großer Mann sein kann.

Nach dem Grundsatze: „Hau,
schau, wen" geböte also die Selbst-
achtung, schlechthin nichts zu sagen.
Diescs Schweigen abcr scheint nicht
mchr am Platze jetzt, nun der
Streit ein ganz andrcs Ausschen
gewonnen und so bedeutende Wel-
len der Zeit und dem Raum nach
geschlagen hat, daß dies nicht mehr
als Wirkung der Eigenkraft be-
trachtet werden kann, die in
der Phrase steckt „Hat Iesus ge-
lebt?" Vielmehr muß diese Phrase
als eine Ursache angesehen wer-
den, die potentielle Energicn ganz
andrer Herkunft in Umsatz gebracht
hat. Bringen wir dabei ein Pshcho-
logisches Moment in Abzug. Es
gibt für den Bruchteilgebildeten
keine größere intellektuelle Wonne,
als die, über Fragen mitzureden,
deren Lösung die menschlichen Er°
kenntnismittel übersteigt, und diese
Wonne ist um so größer, je kleiner
der Bildungsanteil ist, den er auf-
gegriffen hat. Der Grund davon
ist der, daß diesen Fragen gegen-
über der Klügste vom Dümmsten
sich nicht unterscheidet und jeder
mit gleicher Scheinbarkeit über sie
schwätzen kann. Dies erklärt zum
Teil die ungeheure Popularität
des gegenwärtigen Streites. In
diescm „zum Teil" (nur) steckt
Optimismus, gewiß, aber ich will
versuchen, ihn mit Gründen zu
stützen. — Religionen könuen allein
dann Macht und Verbreitung ge°

winnen, wenn bei ihrem ersten
Auftreten einerseits ganz bestimmte
starke Stimmungen die Seelen
beherrschen, und wenn anderer-
seits große philosophische Sh-
steme da sind, denen sie ihren gei-
stigcn Gehalt entnehmen können.
So kann man sagen: Das Ehristen-
tum war als Weltreligion möglich,
weil es das Römerreich und damit
einen weit verbreiteten Seelenzu-
stand auf der einen, die plato-
nisch-aristotelische Philosophie auf
der andern Seite vorfand. Das
Römerreich mit seiner Herrschaft
und seinen Einrichtungen hatte eine
Stimmung und eine Not geschaffen,
der die herrschenden religiöscn Vor-
stellungen nicht mehr genügen konn-
ten, und so wurde das Lhristen-
tum als Weltmacht möglich. Gleich-
zeitig machte es den herrschenden
Köpfen den Pakt vollziehbar da»
durch, daß es platonisch-aristotelische
Philosophie und dazu die neu-
platonische Philosophie in Sym-
bole klcidete, bei denen ein jeder
sich dann denken konnte, was er
wollte. Dadurch sicherte sich das
Christentum die Zukunft. — Nun
wohl: Einrichtungen und Nöte
haben wir heute in der Welt, die
viel, viel gleichmäßiger sind, als die
des Römerreiches. Kapitalismus
und moderne Naturwissen-
schaft bestimmen die äußere und
innere Einrichtung unsers moder-
nen Lebens. Der Druck des Ka-
pitalismus lastet auf den primi-
tiven Seelen, auf den entwickelten
lastet dazu die moderne Natur-
wissenschaft. Vom Kapitalismus
ein andermal; sprechen wir heute
von der Naturwissenschaft! Die hat
schon religiöse Energien in sich.
Pascal — einer der ersten, der
unser heutiges Weltbild sah —
starb als rcligiöser Büßer in Port
Royal. Spinoza wurde, wie ich
mcine, das religiöse Genie unsres

(. Iuniheft (9(0 309
 
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