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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,3.1910

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Heft 18 (2. Juniheft 1910)
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Beaulieu, Héloise von: Goethekultur und Goethemode: ein Gespräch
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https://doi.org/10.11588/diglit.9021#0440
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Die Idealistin: Die Tatsache, daß Goethe, trotz seiner gegen-
teiligen Prophezeiung doch populär geworden ist, zeigt, daß er über
die Entwicklungsfähigkeit der Menschheit zu pessimistisch dachte.
Durch Goethe sind wir zu Goethe hinaufgeführt worden. Die
Zahl derer, die etwas Ahnliches suchen und in Lhnlichen Richtungen
begriffen sind, hat zugenommen; man ist heute goethereifer als vor
hundert Iahren.

Der Skeptiker: O fortschrittgläubige Seele! O unverwüst-
licher Optimismus! Der strebsame Sekundaner (er kennt seinen
Lehrer!), der seinen Aufsatz über Wallenstein, der gewaudte Schmock
(er kennt sein Publikum!), der seine Nachtkritik mit Goethezitaten
ziert, sind „goethereif"! Die Iungfrau, die allmorgendlich ihren
Goethekalender abzupft, ist »in ähnlichen Richtungen begriffen"!
Nein, meine Freundin! Der Goethekultus bei hoch und niedrig
ist kein Beweis für die im Geschwindschritt erreichte Veredlung der
Menschheit, sondern er zeigt nur, daß sie dieselbe nachahmungstolle,
unselbständige Herde ist, die sie immer war. Die seltsame Erschei-
nung, daß ein so aristokratischer, das Pathos scheuender, bei seinen
Lesern viel voraussetzender Schriftsteller mit einemmal das Idol der
Iugend, und besonders der weiblichen geworden ist, der er so wenig
zu sagen hat, sollte einen schon kritisch stimmen gegen diese „Popu-
larität". Scheinbar ist Goethes Prophetenwort widerlegt; aber
das konnte er nicht wissen, daß er einmal Mode werden würde —
die große Mode sogar . . .

Die Idealistin: Mode nennen Sie es! . . .

Der Skeptiker: Trotz Ihrer Empörung muß ich's wieder-
holen: Ia, Mode! Die Leute, die sich heute unter gleichzeitiger
Anpöbelung Schillers herdenmäßig für Goethe begeistern, sind die-
selben, die sich — vielleicht unter gleichzeitiger Anpöbelung Goethes —
in einiger Zeit ebenso herdenmäßig für Schiller begeistern werden.
Das Publikum ist ja doch wie eine treulose Frau, die dem jeweiligen
Sieger in die Arme sinkt, heute Cäsar, morgen Antonius.

Die Idealistin: Wenn denn etwas Mode dabei sein sollte —
das ist die unausbleibliche Begleiterscheinung jeder großen geistigen
Bewegung —, so ist dieses doch eine schöne Mode. Wenn es auch
nicht minder ein Beweis von eigenem Adel ist, daß man mit Goethe
verkehrt, so muß dieser Rmgang doch veredelnd wirken.

Der Skeptiker: Man sollte es meinen. Aber das sicherste
Zeichen von der veredelnden Wirkung des Guten ist, daß man keinen
Geschmack mehr am Schlechten findet. Dieses Merkmal fehlt aber
der großen Masse der Goethebegeisterten. Gewiß kann man sich
an Dichterwerken von großer spezifischer Verschiedenheit erfreuen, aber
man kann sich unmöglich gleichzeitig für Goethe begeistern und für
wertlosen Kitsch. Entweder man heuchelt, um modern zu sein, oder
man betrügt sich selbst. Goethe ist nicht sür alle, er ist nicht einmal
für viele.

Die Idealistin: Da muß ich Ihnen widersprechen! »Wer
vieles bringt ..." Sein ganzes Werk ist nicht für jedermann, aber
jedermann wird in seinem Werke etwas für sich finden.

Der Skeptiker: Das gebe ich zu, wenn Sie unter „jeder-

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