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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,3.1910

DOI issue:
Heft 18 (2. Juniheft 1910)
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Beaulieu, Héloise von: Goethekultur und Goethemode: ein Gespräch
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https://doi.org/10.11588/diglit.9021#0442
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daß er nicht mehr „Literatur« ist, sondern daß er für so viele der
Maßstab geworden, an dem sie die Erscheinungen des Lebens messen,
der Pharns, nach dem sie schauen in der Brandung der Ereignisse.

Der Skeptiker: Ia, der Persönlichkeitskultus geht mit der
Heiligsprechung seiner Werke zusammen. Seine Person ist vielleicht
noch mehr Mode. Das Konkrete liegt den meisten Leuten doch
am besten.

Die Idealistin: Durch Ihre Behauptung „Goethe ist Mode"
wird auf die Tatsache, daß er für die heutige Welt eine ganz andre
Bedentung hat als für die vor dreißig Iahren, wohl ein häßliches
Licht geworfen, aber ich finde nicht, daß sie durch dieses Verdikt
erklärt wird. Ia, warum ist er denn heute Mode, und war's
vor dreißig Iahren nlcht?

Der Skeptiker: Ich glaube, daß besonders zwei Punkte sich
bei der Popularisierung Goethes als hilfskräftig erwiesen haben,
weil sie Bedürfnissen der heutigen Zeit entgegenkommen: Einmal
die traditionelle „Goethesche Gesundheit" — unsre nervenschwache
Zeit klammert sich an Goethe mit derselben gläubigen Inbrunst wie
hysterische Männlein und Weiblein an ihren Sanatoriumsarzt — ,
und zweitens seine Weitherzigkeit in sroiiois. Welch ein Fund für
die ethischen Neuerer, daß sie zur Rechtfertigung der freien Ehe
auf ein so klassisches Beispiel hinweisen können! Denn was Goethe
tat, ist geheiligt. Daß, was man dem Genie nachsieht, den Kleinen
noch längst nicht ansteht, wird hochgemut übersehn. Das ist ja eben
das Gefährliche bei überspanntem Personenkultus: „die Beziehung
auf das eigene Leben" setzt, theoretisch wenigstens, gerade an den
Punkten ein, deren Verallgemeinerung bedenklich ist. Eine beispiel-
lose Selbstbeherrschung und ein rastloses Arbeiten an sich und für
andere begeistert dagegen wenig zur Nachahmung, — ist auch nicht
so leicht nachzuahmen.

Die Idealistin: Und weil es Leute gibt, die die großen Lehren
von Goethes Leben mißverstehen oder nur einen äußerlichen Goethe-
kultus treiben, — deshalb soll die ganze Goethebewegung nichts
taugen?

Der Skeptiker: Wenn ich das gesagt habe — es ist mir
zwar nicht bewußt — , so habe ich zuviel gesagt. Ich wollte einzig
sagen, daß ich in der Art von Goethekultus, die heute bei uns im
Schwunge ist, kein Zeichen von gesteigerter Kultur — so sagten Sie
ja wohl — sehe und Ihr Frohlocken darüber, daß wir es so herrlich
weit gebracht, so wenig teilen kann wie Ihr Herabsehen auf eine
Zeit, da Goethe noch nicht Nietzsches Nachsolger in der Gunst der
höheren Tochter geworden war. Solange wir der „erlesenen Minder-
heit" von früher nur eine modesklavische Majorität entgegenstellen
können, haben wir noch keine Nrsache, auf unsre „goethereise" Zeit
stolz zu sein. Wenn die Goethemode verschwunden sein wird, und
seine Gemeinde dann jene, die längst war, an Zahl übertrifft, ohne
ihr an Qualität uachzustehen, — dann können wir vielleicht von ge-
steigerter Goethekultnr sprechen. Das wollen wir abwarten. Goethe
muß wieder unpopulär werden. Weniger Goethe! Denn — weniger
Goethe wäre mehr Goethe. Heloise von Beaulieu

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