Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,3.1910

DOI issue:
Heft 18 (2. Juniheft 1910)
DOI article:
Rundschau
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.9021#0475
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
berg-Zyklus angekündigt, um ihn
nach zwci Abenden abznbrechen und
nach fünfzig Aufführnngen einer
Lokaloperette wieder fortzusetzen.
Die heucr nicht mehr erwartete
Fortsehung brachte als angenehme
Äberraschung die sorgfältig vorbe-
reitcte Erstaufführung der Passion
„Ostern". August Strindberg läßt
durch Klänge aus Hahdns Orato-
rium „Die sieben Worte des Er-
lösers" sür jeden dcr drei Akte scines
Osterspieles die Stimmung vorbe-
reiten. Auch sonst erfordern diese
drei Akte einen großen Aufwand
von Stimmungsbehelfen. Seltsame
Beleuchtungskünste müssen die rca-
len Vorgänge in ein mhstisches
Helldunkel tauchen und aus Maeter-
lincks „ü'intruse" wird die Grusel-
technik herangezogen, damit der Zu-
schauer die ganze Skala des Un-
heimlichen durchlaufe. Was nun ist
von diesen Stimmungselementen
umsponnen? Eine Alltagsdefrau-
dation, deren Folgen sich in Wohl-
gefallen auflösen. Waisengelder
wurden unterschlagen. Der Schul-
dige büßt dafür im Kerker und seine
Familie schmachtet unter dem Druck
der öffentlichen Schande, von dem
sie erst in zwölfter Stunde erlöst
wird, als die Tochter in Gefahr
ist, ein ähnliches Schicksal zu er-
leiden wie ihr eingekerkerter Vater.
Um ihren Bruder mit einer Oster-
lilie zu erfreuen, hat die Traum-
verlorene einen verschlossenen Blu-
menladen aufgesperrt und für den
entnommenen Blumenstock das Geld
hinterlegt samt ihrer Karte. Doch
Geld und Karte gingen verloren,
und gleich folgern die Klatschbasen
der Gasse: der Apfel fällt nicht weit
vom Stamm. Die Sache klärt sich
indes auf, und der die Aufklärung
bringt, ist der Hauptgläubiger der
Familie, der am meisten unter der
Defraudation gelitten hat und im
Banne der Osterstimmung die ge-

fürchtete Pfändung aufhebt. Halle-
luja, Christ ist erstanden! . . . Man
müßte mit Blindheit geschlagen sein,
um nicht aus der Art, wie Strind-
berg diese Alltagsgeschichte vorträgt,
die Handschrift des Dichters zu er-
kennen, und taub sein, um aus dem
verzückten Gestammel der kleinen
„Liliendiebin", die, ohne sich zu ver-
teidigen, alle Schuld auf sich nimmt,
nicht mehr herauszuhören, als die
Stimme eines rührseligen Mclodra-
matikers. Was aber um diese Ge-
stalt herum sich an Herz und Ge-
müt wendet, findet kein volltönen-
des Echo, weil es keine Mcnschen
sind, die zu uns sprechen, sondern
gespensterhaft flackernde Schatten.
Statt sie durch eine kräftig realisti-
sche Betonung auf den Bod'en der
Wirklichkeit herabzuzwingen, verfiel
die Darstellung der Iosephstädter
Bühne in den Fehler eincr geheim-
nisvoll flüsternden und feierlich
pausierenden Monotonie, die vor
das Werk graue Nebelschleier senkte
und seine poetischen Schönheiten
nur ahnen ließ. Ich kannte sie
vom Lesen her, und dennoch müßte
ich lügen, wollte ich bekennen, von
der Aufführung des wunderlichen
Mhsteriums einen anderen Eindruck
empfangen zu haben, als den eines
Gemengsels heterogcner Stim-
mungselemente, die sich zu keiner
künstlerischen Einhcit zusammen-
schließen mochten.

Gäbe es neben dcn ständigcn
Theatern nicht auch sozial organi-
sierte Vereinigungen, die bestrebt
sind, ihren Mitgliedern gegen ge°
ringe Beiträge ernste dramatische
Genüsse zu bieten, so bliebe in der
Tantiemenmühle mancher Dichter
unbeachtet, der es verdient, gehört
zu werden. Der Freien Volks-
bühne gebührt das Verdicnst, die
dichterische Kraft und den dramati-
schen Schwung Herbert Lulen-
bergs zum erstenmal in einem

t 2. Iuniheft MO 395
 
Annotationen