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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

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Heft 7 (1. Januarheft 1911)
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Avenarius, Ferdinand: Schneegestöber
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https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0019
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Gedanken-Arrangements zu wohlwollend bemessenen Pretsen und leltet
persönlich ihre Inszenierung. Da mir für die moderne Geselligkeit
leider schon lange das Organ fehlt, bin ich in dieser Beziehung übers
Neueste in der Hauptsache nur durch Flüchtlinge aus den Salons
unterrichtet. Aber schon zu meiner Zeit trieb man es so, daß die
Frage kam: wie können Menschen von Gehirn Spaß dran haben,
so lange sie nicht begessen und betrunken sind? Die Welt, in der
man sich langweilt, ist ja die Welt, in der man sich vormacht, mau
amüsiere sich. Bekanntlich hat Schopenhauer die Theorie aufgestellt,
wir müßten's wie Stachelschweine halten: so nah, daß man sich wärmt,
nicht s o nah, daß man sich sticht. Ein Vergleich, kaum rühmlich,
aber doch immer noch innerhalb der auimalischen Zone. Wenn jedoch
die Wärme nicht einmal aus den Wesen selber kommt, wenn sie
erst von draußen bezogen werden muß? Von draußen nicht nur
als Anregung, dem Vorgedachten und Vorgefühlten bedeutender Na-
turen nachzugehn, die über uns stehen, uns beschenken, uns heben
können, nein, von draußen auch als ein Schwindel, mit dem wir
uns selbst und unsre Gäste betrügen, vormachend, wir wären, was
wir nicht sind — so daß man aus dieser ganzen Art von Verkehr
eigentlich die „Gesellschaft" erst wegwischen müßte, um vom Menschen
zum Menschen, um aneinander heranzukommen. Bekanntlich „finden"
sich die Gäste gewöhnlich, wenn sie sich überhaupt „finden", erst auf
dem Heimwege.

Aber zweierlei ist gewiß nicht bei all dem zu übersehen. Erstens:
es ist wohl der lauteste und auffälligste Teil der Gesellschaft, der
solcherlei „Gesellschaften" gibt, aber auch in den Großstädten weder
der größte noch der wichtigste. Im gebildeten Mittelstand und im
aufstrebenden Arbeiterstand kann der Berlin iV-Typ nicht bloß aus
Geldgründen noch nicht herrschen, denn er herrscht dort auch noch
nicht (wie alles Herunterkommende im Modewesen) in der billigern
Form der Imitation. Nnd dann: selbst durch Snobs Salon flimmert
doch immerhin etwas vom Leben, in der üblichen Kleinstadt-
Geselligkeit aber soll's an sehr vielen Orten einfach wegbleiben, so
daß kein andrer guter oder schlechter Geist durch die Räume wandelt,
als der da gähnt.

Eigentlich könnte ja jede Gesellschaft ein kleines Fest sein. Ein
Fest mitzufeiern, erfordert aber ein Maß Kraft, andre Kraft als
die Tagesarbeit verbraucht hat, immerhin Kraft. Wie der Genuß eines
starken Kunstwerks im Theater oder im Konzertsaal, wie alles Nähren
überhaupt: Kraft zum Aufnehmen, zum Hereinarbeiten ins Ich. Schon
Goethes Theaterdirektor gibt sich bekanntlich keiner Täuschung darüber
hin, daß die Masse seines Publikums diese Kraft nicht mitbringt, nnd
weshalb Richard Wagner große Kunstwerke auf Feiertage der Frische
verlegte, das weiß man auch. Unsre Geselligkeit (und leider auch
unsre Kunst) ist meist für Ermüdete gemacht. Nicht mehr an°
spannen also: oberflächlich sein, flirten, schwatzen, oder aber: auf-
reizen. Keine halbe Stunde Gehirnschlaf gönnt man sich, bevor man
aus dem Fachmenschenleben zu dem übergeht, was helfen sollte, das
Teilmenschentum zum Vollmenschentum auszurnnden. Aber das sind
Erscheinungen, die mit unsrer ganzen Zivilisation zu mannigfaltig


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