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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

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Heft 7 (1. Januarheft 1911)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0063
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Lm „Gebildeter", der den Faust
iricht kennt — ich glaube nicht,
daß es solch einen gibt — erschiene
uns als eine Knriosität, als einer,
der mit einem sonderbaren Ge-
brechen behaftet ist. Aber ich
selbst kenne mehrere Leute, die
den Prediger Salomonis noch nie
gelesen haben.

Die Gründe dafür? Sie liegen
sicherlich zum Teil in der katho-
lischen Bibelscheu, zum Teil auch
in der engen Verbindung der Bibel
mit dem Kirchentum, welche das
Bibellesen in den Augen des Vol-
kes zur Fachlektüre gemacht hat.
Einen Teil dcr Schuld trägt end-
lich die Schule. Sie gibt dem
protestantischen Schüler zwar die
Bibel frühzeitig in die Hand, aber
sie entfaltet ihr gegenüber dieselbe
vcrhängnisvolle Wirksamkeit wie
gegenüber der antiken Welt und
den humanistischen Idealen: sie
erzeugt beim Schüler den ober-
flächlichen Anschein einer Kcnntnis
und hält ihn dadurch von einer
spätercn selbständigen Beschäftigung
mit ihr ab. Wir alle, die wir
Homer auf der Schule gelesen haben,
kennen wir Homer? Wenn wir
ihn kennen, so verdanken wir das
gerade im wesentlichen einem spä-
teren, selbständigen Aneignungs-
Prozeß. Zu diesem fühlen sich
aber nur Menschen von starkem
Bildungstrieb und einer gewissen
Selbständigkeit des Geistes ge°
drängt. Tatsache bleibt: daß die
Bibel, obwohl die Forschung seit
zwcitausend Iahren jeden Satz in
ihr siebenfach umgcwcndet hat, in
weiten Kreisen des Volkes heute
noch eine seltsame Art öffentlichster
Unbekanntheit genießt. Und ge-
rade die gebildeten Laien sind es,
bei denen sie auf diese Stumpfheit
trifft: Menschen, die sonst alle
Zeiten und Völker nach Lesestoff
abzusuchen pflegen, gehen an

diesem einen Buche vorüber. Seine
Schönheit wird fast nur von den
„Fachleuten" gewürdigt, als Ne°
benprodukt ihrer Berufstätigkeit.
Daß die Bibel herrliche Geschich-
ten cnthält, weiß jeder Laie, aber
— seltsam! — er liest sie nicht,
obwohl ein Dichter wie Luther
ihnen eine Verdeutschung gegeben
hat, die diese Bücher im vollen
Sinne des Wortes zu den schön-
sten Denkmälern der deutschen
Literatur gemacht hat. An eigent-
licher Theologie enthält die Bibel
nichts als einige Apostelbriefe,
voran die des Paulus. Alles
übrige ist Geschichte, Sagc und
Gesang, vermischt mit zürnender
oder friedlich-idhllischer Weisheit,
in allen Fällen aber reine Kon-
frontierung des Menschen mit dem
Weltall ohne dogmatische Vermitt-
lung. Was will man von einem
Buche mehr? In diesem Buche
sind die Gedanken der Großen, die
Klugheiten der Kleinen, die Ent-
würfe der Starken, das Behagen
und das stille Schauen der Ge°
lehrten, das Auf und Ab eines
wichtigen Völkergeschickes und das
wechselnde starke Leben eincs tem-
peramentvollen Gottes. Muß ein
Buch, das solches zu bictcn hat,
wirklich warten, bis es der Insel-
verlag auf Bütten und mit Schi»
kancn bibliophilerweise heraus-
gibt, damit es in den Bibliothe-
ken Bürgerrecht gewinnt?

Eigentlich war es meine Absicht
nicht, zn polemisieren. Es soll
einmal eine Zeit gegeben haben,
in der die Alpen als zu fliehende
barbarische Wildnis galten. Wenn
einer heute auftreten wollte, um
diese Anschauuug zu widcrlcgen,
indem er allen Ernstes die Schön-
heit der Bergwelt wie etwas Neu-
entdecktes anpriese, dann wäre die
Antwort ein Gelächter. Ahnlich
käme ich mir als Apostel der

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