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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

DOI Heft:
Heft 8 (2. Januarheft 1911)
DOI Artikel:
Gürtler, Franz: Deutsches Theater und "Deutsches Theater"
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https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0116
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gereizt, aufgeheitert — oder verstimmt wird, je nachdem. Man kann
bei Reinhardt — ich denke an „Don Carlos", „Räuber", „Faust",
„ödipus", „Komödie der Irrungen", deu „Natürlichen Vater" und
andre Aufführungen — einen ganzen Abend lang gefesselt werden
von neuen fchauspielerischen Auffassungen, von Deklamationseigen-
tümlichkeiten, von exzentrischen Gebärden und nnwahrscheinlichen
Szenenbildungen, und man kann es sehr schätzen, daß so viel Leben
aus andre Bühnen übergeht von dieser ewigen Unruhequelle. Aber
man kann auch wieder gauze Abende vergebens anf eine einzige
reine dichterische Wirkung warten. Im Grunde sind dies alles
doch spielerische, kindliche Interessen, denn hinsichtlich der Kunst ist
es doch wohl gleichgültig, was für Quiektöne Herr Großmauu und
welche farbigen Lappen Herr Biensfeld vorbringt — wenn nur das
Drama, die Dichtung nicht von all den Exzentrizitäten zerstreut
und zerrissen wird.

Wie verhängnisvoll diese Haltlosigkeit 'ist, kann man in Berlin
oft beobachten; die Schauspieler, die sich selbst überlassen bleiben,
bilden natürlich rücksichtslos ihre Spezialismen, ihre allereigentüm-
lichste Neigung aus. Das ist menschlich und für die Eiuzelnen kaum
ein Vorwurf. Aber von Iahr zu Iahr kann man beobachten, wie
Reinhardts Darsteller immer weniger wandlungsfähig werden, wie
Herr Wegener als Graf von Gleichen, als Natürlicher Vater, als
Sdipus und Holofernes immer Herrn Wegener so ähnlich ist, daß
die individuelle Charakteristik der Rollen daneben fast ganz zurücktritt.
Große, aber nicht vollkommen gefestigte Talente wie Tilla Durieux
gehen nach meiner Beobachtung geradezu zurück. Frau Heims, Herr
Hartau, Fräulein Konstantin und andre wiederholen sich in jeder
ueuen Rolle. Nnter solchen Nmständen ist es gar nicht erstaunlich,
wenn das Berliner Publikum dreimal in einem Winter in den Faust
läuft um drei — Besetzungen zu sehen, auf deutsch: wenn das Inter-
esse von der bedauernswerten Dichtung auf die Schauspielerei über-
gegangen ist. Man versteht nun auch, wie gut Reinhardt seine Leute
kennt, wenn er wirklich einmal Komödie von Tragöden mimen läßt,
wie das neuerdings von Berliner Blättern mit Bedauern gemeldet
wurde. Man versteht, welche Pikanterie darin lag, daß er den blinden
hochbetagten Greis Teiresias in Sophokles' Tragödie von Herrn Moissi
darstellen ließ, einem Schauspieler, der in Stimme und Körper etwas
so Iugendliches, ja beinahe Knabenhäftes hat, daß jede Bühne sich
beglückwünschen kann, die ihn für jugendliche Rollen gewinnt, der aber
noch nicht einmal reife Männer ohne Schwierigkeit verkörpert. Es ist das
Spiel im Spiel, was sich da vor den eigentlichen, den einzigen
Zweck des Theaters gesetzt hat und die Ssnsatiou des Berliner Pu-
blikums geworden ist. Ein guter Kenner des sranzösischeu Theaters
sagte einmal, französische Schauspieler begriffen diese Rollenfremdheit
ihrer deutschen Kollegen nicht; und sei die Rolle noch so albern, sie
mit vollem Sachernst durchzuführen, sie zu spielen, nicht mit ihr
zu spielen, sei doch erstes Gebot. Wer läppische Sachen wie die
„Sorcitzre" von Dumas oder manche modernen Ehestücke französisch
gesehen hat, weiß, wodurch sich dieser Stil von der Verrenkung bei uns
unterscheidet.


Kunstwart XXI V, 8
 
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