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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

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Heft 8 (2. Januarheft 1911)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0156
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Der Furist: Aber nicht dabei
steckenbleiben darf er! „Ganze
Menschen!" Als ob es je nrehr
als ein paar von dieser Sorte ge-
geben hätte. Aber ihr träumt von
einem Zustande, in dem die Aus-
nahme zur Regel wird, werdet dann
durch die Gegenwart geweckt und
seht nun überall „Schäden". Der
Mensch ist eine Maschine, ein »Her-
dentier". Lesen Sie: „Er erwartet
all sein Heil von den Dingen und
Verhältnissen, hofft nichts mehr von
feiner eigenen Einsicht und Kraft";
„das Maß ist aus unserm Leben
gewichen"; „unsre Gesetzgebung und
unser öffentliches Recht kennt ideale
Interessen kaum" — und so weiter.
Muß solch allgemeiner Tadel nicht
entmutigen, statt zu fördern?

Der Lehrer: Und doch finden
Sie gerade in diesem Buche auf die
düstere Gegenwartsverneinung eine
siegesfrohe Gestaltung starker Zu-
kunftshoffnungen gebaut.

Der Iurist: Wodurch aber
gelangt Wolgast* in seincm sozial-
pädagogischen Versuche zu dieser
verklärten Zukunft? Durch die
Schule.

Der Lehrer: Die Erziehung.

Dcr Iurist: Gleichviel. Nicht
durch die Natur. Nicht durch das
Leben. Durch bewußte, gewollte
Leitung. Daran aber kann ich un-
möglich glauben. Wenn es so
schlimm mit uns stcht, wie er meint:
dann hilft keine Erziehung mehr.

Der Lehrer: Sie vergessen,
daß Bücher über Erziehung immer
ein Notbehelf sind: so, wie wenn
man ein Kunstwerk bcschreibt. Und
mich wundert's nicht, wenn Ferner-
stehenden Erziehungsgedanken durch
Erziehungsbücher vcrleidet werden;
selten wissen sie so taktvoll wie die-

* Wolgast, „Ganze Menschen"
(Buchverlag der Hilfe, Berlin-
Schöneberg)

ses hier die Gefahren ihrer schrift-
stellerischen Aufgabe zu meiden.
Nationalistcn bemächtigen sich dieser
Fragcn, und nicht alle Erziehungs-
vorschläge, die heute gsmacht wer-
den, sind so erlebt wie der Langer-
manns, von dem wir vorhin
sprachen.* Selten läßt sich dem
Außenstehenden das verständlich
machen, was bei allen Erziehungs-
aufgaben das Wichtigste bleibt: das
innere schöpferische Leben. Die
Hauptaufgabe derartiger Bücher
wird denn auch immer sein: Ge-
sinnungen zu wecken und zu
beleben, den Willen zu erregen, den
schöpferischen Kräften und Wün-
schen, die verworren in einer Zeit
schlummern, eine Richtung zu geben.

DerIurist: Eerade gegen diese
Gesinnung wende ich mich ja. Mir
persönlich würde vieles in dem
Buche praktisch brauchbar erschei-
nen, wenn es nicht in diese Gesin-
nung eingeschlosscn wäre. Ihr Kern
bleibt doch immer: nicht allein,
nicht aus sich heraus kann die
Nation und der einzelne vorwärts-
kommen, sie bcdürfen dazu der
„Erzieher". Wir Deutschen
brauchtcn weniger Erzieher und
mehr Selbständigkeit.

Der Lehrer: Aber eben zur
Selbständigkeit müssen wir,
Gott sei's geklagt, zunächst einmal
erzogcn werden. „Lrzichen" wie
Wolgast das meint, und mit ihm
eine große Gesinnungsgenossen-
schaft, das heißt ja gerade: dem
Menschen helfen, sich zu er°
ziehen. Wollen Sie auch die
Notwendigkeit solcher tzilfe in
dieser unsrer Zeit bestreiten?

Der Iurist: Warum schon
wieder: „in dieser Zeit"? Iede
Zeit hatte ihre Nöte.

* „Der Erziehungsstaat" von
Ioh. Langermann (Math. Zimmer-
haus, Berlin-Zehlendorf)

(2§

Kunstwart XXIV, 8
 
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